Bewertung
Clint Eastwood

Fremde Sohn, Der

"I want my son back!"

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Inhalt

Los Angeles 1928. Christine Collins (Angelina Jolie) ist die alleinerziehende Mutter eines achtjährigen Sohns. Als sie eines Tages von der Arbeit als Telefonistin nach Hause kommt, ist Walter verschwunden. Nach zehnmonatigem Bangen verkündet die Polizei, ihren Sohn gefunden zu haben. Aber Christines Wiedersehensfreude wird bitter enttäuscht: Der Junge ist nicht Walter. Captain JJ. Jones (Jeffrey Donovan), der wegen Korruptionsvorwürfen gegen sein Department einen glänzenden Erfolg gut gebrauchen kann, beharrt aber darauf, dass es sich bei dem Jungen um ihren Sohn handle.

Christine lässt jedoch nicht locker, und drängt die Polizei, die Suche wiederaufzunehmen. Jones will eine öffentliche Blamage um jeden Preis verhindern. Erst versucht er Christine mittels gekaufter Ärzte als lieblose Spinnerin zu diffamieren. Als sie, unterstützt von Reverend Gustav Briegleb (John Malkovich), Beweise dafür vorlegen will, dass der Junge nicht ihr Sohn ist, soll sie in der Psychiatrie endgültig ruhiggestellt werden. Christines dornenreicher Leidensweg durch die korrupten Institutionen weist schließlich zu einer Serie von Kindermorden.

Kritik

Das Verhältnis eines Trailers zum Kinofilm entspricht oft dem eines fotografierten zum realen Burger: Der Salat ist knackiger, der Fleischlappen saftiger, alles größer und appetitlicher als das Erzeugnis, das man später aus der Pappschachtel klaubt. Häufig bekommt man im Trailer den Film zu sehen, von dem die Produktionsfirma glaubte, dass der Regisseur ihn hätte machen sollen. Fußlahme Actionstreifen und zwerchfellschonende Komödien verschießen hier gerne ihr ganzes Feuer, um zumindest in der ersten Woche ausreichend Zuschauer in die Multiplexe zu ködern. Manchmal erhält man das Versprochene. "Ich will meinen Sohn!" fleht, weint und wütet Angelina Jolie im Trailer zu Clint Eastwoods "Der fremde Sohn". Der Trailer zum neuen Werk des Oscargewinners lässt Schlimmes befürchten – und der Film erfüllt die Erwartungen dann auf ganzer Linie.

Wie der Trailer ankündigt, inszeniert Clint Eastwood den Kampf der Christine Collins als emotionalen Großkampfeinsatz. Über die halbe Laufzeit steht Jolie das Wasser in den Augen. Immer wieder fliegt die bebende Hand zum Mund, um den Schrei des Entsetzens zu unterdrücken. Selbst Regielegende Martin Scorsese erlag in "Aviator" dem Irrtum, dass das wildbewegte Gesicht eines Schauspielers in Großaufnahme notwendig großes Kino ergibt.

Und Hauptdarstellerin Angelina Jolie gibt ja auch was sie hat. Den Kopf tief eingezogen zwischen die gekrümmten Schultern gelingt es ihr für ein paar Momente, ihrer Telefonistin die adäquate Graumäusigkeit zu verleihen. Wieder zeigt sich, dass Jolie beileibe keine herausragende Schauspielerin ist. Ihre mimischen Möglichkeiten bewegen sich irgendwo im soliden Mittelfeld. Aber gerade ihr sehr spezielles Aussehen, das sie für die Klatschpresse so attraktiv macht, verbaut ihr die Möglichkeit über ihr Rollenfach hinauszukommen. Wie schon als duldende Hausfrau in "Der gute Hirte" ist sie trotz allem achtenswerten Einsatz letztlich fehlbesetzt. Schuld daran hat auch die Maske. Jolies ohnehin unwirklich üppiger Mund wirkt hier in seiner blutroten Bemalung deplaziert bis zur Obszönität.

Aber weit schwerer wiegt der dramaturgische Totalausfall. Die erste Stunde tut Eastwood nichts weiter, als die Emotionsschraube immer fester anzuziehen, um auch vom phlegmatischsten Zuschauer maximale Betroffenheit zu erpressen. Die Zustände in den Psychiatrien der 20er Jahre: schlimm, schlimm. Und wenn wir schon in der Irrenanstalt sind, darf natürlich auch die "Einer flog übers Kuckucksnest"-Szene nicht fehlen. Brutale Säuberung mit dem Feuerwehrschlauch, entwürdigende Genitaluntersuchungen und Elektroschocks: Hier ist wirklich alles dabei.

Später schwenkt Eastwood vom Gesellschaftsdrama zum Thriller und schließlich zum Gerichtsfilm. Inklusive öffentlicher Rehabilitation und Heiligsprechung seiner Heldin. Vervollständigt durch die Bestrafung der Übeltäter und die Befreiung der Unschuldigen. Zum Ende darf Christine Collins dann noch erfahren, dass ihr Sohn als Retter in höchster Not zum Helden geworden ist. Ganz die Mama, der Kleine. Damit ist auch dem allerletzten Gesetz des Hollywoodfilms Genüge getan.

Wirklich erschreckend ist dabei die unterschwellige Gleichgültigkeit, mit der Eastwood seine Figuren abfertigt. Was ein Kind dazu bewegt, sich über Wochen als jemand anderes auszugeben, eine fremde Frau "Mama" zu nennen: wird mit einem Satz abgehakt. Noch in "Mystic River" spielte der großartige Tim Robbins das Trauma des Missbrauchsopfers, als wäre da eine Seele ausgelöscht worden. Hier wirken die misshandelten Jungen in allen Leidenslagen so gutgenährt und wohlfrisiert, dass ihr schlimmstes vorstellbares Unglück die verpatzte Klassenarbeit zu sein scheint.

Das Desinteresse Eastwoods für Motive und Gefühle erstreckt sich auch auf seine Heldin. Er zelebriert Christines Leiden und Widerstand gegen die Mühlsteine der Institutionen mit ermüdender Penetranz. Aber für ihre Trauer, ihre Sehnsucht nach ihrem Sohn interessiert er sich nur peripher. Einmal darf sie gedankenvoll über seine Bettdecke streifen, dann ebenso bedeutungsschwanger ein Kinderbild berühren. Vervollständigt wird das Ganze durch einen wehmutsvollen Blick aus der Straßenbahn auf eine dekorativ angeordnete Kindergruppe mit Ball und Springseil. Verbrämt in Sepiabraun und Pastell. Alles wie gehabt. Das muss genügen.

Angesichts des lautstarken Plädoyers für die Würde der Frau erweist sich dann auch das Weiblichkeitsbild des Films als fragwürdig. Als berufstätige, allein erziehende Mutter erscheint Christine Collins zunächst als Prototyp der modernen Frau. Aber ihr höchster und einziger Lebenssinn ist die Liebe zu ihrem Sohn. So beschränkt sich ihr Charakter auf den Archetyp der wütenden Löwenmutter, die erbittert um ihr Junges kämpft. Dass Christine Collins Gefahr läuft, ihre Chance auf ein Leben nach dem Verlust bei der unaufhörlichen Suche aufs Spiel zu setzen, wird kurz angedeutet – und dann schnell zum heroischen Durchhaltewillen umetikettiert.

Fazit

Clint Eastwoods "Der fremde Sohn" ist ein filmisches Desaster, dessen einziges Ziel es zu sein scheint, dem weiblichen Teil Brangelinas nach dem Nebenrollenoscar nun auch den Hauptpreis zu verschaffen. Eastwood, der in "Million Dollar Baby" die kämpferische Frau in einer männerdominierten Welt für sich entdeckt hat, schlachtet deshalb konsequent jede sich bietende Gelegenheit zum prämierungswürdigen Breitwandgefühl aus und verschenkt achtlos jede, aber auch jede Ambivalenz und Abgründigkeit, die seinem Stoff prinzipiell innewohnt.

Tobias Lenartz - myFanbase
24.01.2009

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