Bewertung
Mike Leigh

Another Year

"Ein äußerst angenehmes Eintauchen in das wahre Leben von wahren Personen, die von Schauspielern dargestellt werden, die spielen, wie sie atmen. Ein herrlicher Film." - L'Unità

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Inhalt

Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen) sind glücklich verheiratet, wohnen in London und sind beide Anfang 60. Ihre Wochenende verbringen sie entweder alleine oder mit ihrem Sohn Joe (Oliver Maltman) in ihrem Schrebergarten. Und wenn noch mal Zeit ist, dann treffen sie sich mit ihren Freunden auf ein Glas Wein oder zu einem leckeren Abendessen. Da wäre zum einem Mary (Lesley Manville), Gerris beste Freundin, die sich immer wieder bei ihrer Freundin Rat holt, auch wegen den kleinsten Problemen. Mary ist Alkoholikerin, fühlt sich sehr alleine und heult sich regelmäßig bei Tom und Gerri aus. Sie hat ein Auge auf Joe geworfen, doch der erwidert ihre Gefühle nicht. Zum anderen wäre da noch Toms bester Freund Ken (Peter Wight), der immer im Sommer zu Besuch kommt. Er und Mary haben vieles gemeinsam, und er fühlt sich auch zu ihr hingezogen, doch sie weist ihn ab. Ken fühlt sich ebenfalls einsam und frisst buchstäblich alle Probleme in sich hinein.

Als sich Joe endlich verliebt und er im Herbst seinen Eltern seine Freundin Katie (Karina Fernandez) vorstellt, ist auch Mary zufälligerweise anwesend. Sie kocht vor Eifersucht und reagiert herablassend Katie gegenüber. Das entgeht auch Joe, Gerri und Tom nicht. Als sie dann allerdings anfängt, Katie bei Gerri schlecht zu machen, ist dies das vorläufige Ende einer langen Freundschaft. Doch Gerri hat nicht lange Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn plötzlich stirbt Toms Schwägerin und sie holen deshalb Toms Bruder, Ronnie (David Bradley), zu sich.

Kritik

Mike Leigh wurde vor allem durch seine Filme "Vera Drake", "Lügen und Geheimnisse" und "Happy-Go-Lucky" bekannt. Mit "Another Year" schlägt er dieses Mal eine ganz andere Richtung ein. Eine ernstere, dennoch bleibt er sich aber, was den Humor angeht, treu. Auch wenn dieser Film keine richtige Komödie ist. Seine Premiere feierte "Another Year" auf dem Filmfestival in Cannes. Für sein Drehbuch erhielt Leigh 2011 eine Oscar-Nominierung und wurde als Bester Regisseur für den British Independent Film Award nominiert.

Leigh erzählt den Film in vier Episoden: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ein Jahr eben. Ein Jahr, in dem so viel passieren kann, das aber genauso gut trostlos sein könnte, wenn man nichts draus macht. Es ist die Geschichte von Tom und Gerri, die mit sich im Reinen und glücklich sind. Genauso wie ihr Sohn Joe, auch wenn er immer noch seine große Liebe sucht. Das komplette Gegenteil von ihnen stellen ihre Freunde Mary und Ken dar. Und das ist auch gut so, denn so zeigt Mike Leigh auf eine sensible Art und Weise, dass man froh sein sollte, wenn man so ein Glück, das Gerri und Tom haben, gefunden hat. Und man sollte es auch nie mehr loslassen. Denn Mary und Ken haben nicht so ein Glück. Beide sind total von der Rolle und machen sich das Leben selbst schwer. Tom und Gerri versuchen immer für ihre Freunde da zu sein, aber auch hier zeigt der Regisseur wieder gut, dass auch sie nicht perfekt sind und oftmals von bestimmten Problemen ihrer Freunde keine Ahnung haben. So ist zum Beispiel Tom oft überfordert, der von Jim Broadbent ("Iris", "Tintenherz") großartig dargestellt wird. Er hat eine zynische Art an sich, die selbst Gerri nicht mag, sich aber längst mit ihr abgefunden hat. Und Gerri, die von Ruth Sheen gespielt wird, ist einfach die gute Seele des Hauses.

Der Film geht an die zwei Stunden, doch ich muss ehrlich gestehen, dass der Film einem nicht lang vorkommt. Nachdem man anfangs noch glaubt, dass es im Hause von Gerri und Tom nie so etwas wie Streit oder Kabbeleien gäbe, tritt dann doch so eine Situation mit Mary ein. Mary ist Dauergast bei den beiden und treibt es eines Tages auf die Spitze, als sie vor Eifersucht Joes Freundin Katie schlecht macht. Als Zuschauer empfindet man in diesem Moment nicht nur Entsetzen oder Antipathie für Mary, sondern auch Mitleid, weil sie sich immer kaputter macht und einfach nicht helfen lässt. Doch der Film bleibt bei seiner ruhigen Erzählweise und artet jetzt nicht mit einem lauten Streit aus, was ich gut finde. Gerris Reaktion und Handeln, was Mary betrifft, kann man total nachvollziehen. Denn irgendwann ist man es leid, einer Freundin mit Alkoholproblemen helfen zu wollen, die die Hilfe gar nicht will, so sehr es auch schmerzt. Das Ehepaar schmeißt sie nicht raus. Nein, sie ziehen sich auf ihre Art einfach von ihr zurück, distanzieren sich. Mary muss zum ersten Mal lernen, auf eigenen Füßen zu sehen und Verantwortung zu übernehmen. Ansonsten hatte sie immer noch Gerri an ihre Seite, die ihr Ratschläge gab, doch das ändert sich nun mit einem Schlag.

Ein Jahr kann lang sein, aber auch schnell vergehen. Es kommt darauf an, was man aus dem Jahr macht. Genauso kann ein Jahr eintönig werden, weil man einfach nichts ändert, sondern immer wieder in alte Gewohnheiten zurückfällt, von Fehlern ganz zu schweigen. Aber gerade diese alten Gewohnheiten muss man nicht unbedingt ändern oder sogar ablegen, denn Gewohnheiten können auch etwas Schönes sein. Das sieht man an Tom und Gerri. Sie sind das beste Beispiel. Mike Leigh versucht mit dem Film sehr viel zu vermitteln. Man erkennt sich in vielen Szenerien oft sogar selbst wieder und glaubt, man hätte gerade ein Déjà-Vu. Es ist nicht schlimm, wenn man Jahr für Jahr in dasselbe Land fährt, um dort Urlaub zu machen. Auf der anderen Seite würde Abwechslung aber auch mal ganz gut tun. Vielleicht ist es aber einfach nur die Bequemlichkeit. Den Tod der Schwägerin hätte man wohl nicht einbauen müssen, doch Leigh hat es getan, weil er zum Leben dazugehört. Und mit stillen, ans Herz gehenden Momenten inszenierte er gut, wie man sich gerade in dieser Zeit entweder näherkommt oder die Familie auseinanderfällt. Dabei spielen Tom und sein Bruder Ronnie ganz entscheidende Rollen in "Another Year".

Tom und Ronnie, der vom großartigen David Bradley (der Hausmeister aus den "Harry-Potter"-Verfilmungen) gespielt wurde, haben eine ganz besondere Beziehung. Beide haben sich auseinandergelebt, was auch nicht ausbleibt, wenn man sich nicht regelmäßig sehen kann und in unterschiedlichen Städten wohnt. Durch den Tod von Ronnies Frau sind sich die Brüder wieder näher gekommen. Das alles hat jedoch auch eine Kehrseite. Das Verhältnis zu seinem Sohn Carl geht ganz in die Brüche. Ohne Zweifel sind Gerri und Tom in "Another Year" die Hauptfiguren und ihre Leben ist harmonisch, verläuft einfach im Rhythmus. Mit den anderen Charakteren bekommt man eben gezeigt, dass nicht jeder mit so einem Glück gesegnet ist. Diesen Kontrast und immer wieder wechselnde Stimmungen hat Mike Leigh einzigartig und vor allem auf authentische Art und Weise aufgegriffen. Bei ihm gibt es keine typisch üblichen Spleens und Widersprüche. Als Zuschauer merkt man sofort, dass dem Regisseur besonders seine Charaktere am Herzen liegen und er sie bedingungslos liebt. Er zeichnet sie sehr genau und ihr Verhalten ist absolut nachvollziehbar.

Fazit

Mike Leigh ist mit "Another Year" ein ganz besonderer Film gelungen. Dazu dieser großartige Cast und wie Leigh sich die Mühe gab, einen sehr genauen Blick auf seine Charaktere zu werfen. Es könnte das Leben von jedem anderen sein. Und obwohl "Another Year" nicht großartig anspruchsvoll ist, packt er einen doch. Der Film zeigt im Großen und Ganzen nur, was in einem Jahr so alles passieren kann, auf was man verzichten kann und was wiederum nicht. Und dass Glück und Leid oft dicht beieinander liegen, Freunde und Familie wichtig sind, es aber auch Situationen gibt, in denen man bestimmte Freundschaften infrage stellen sollte, wenn nicht eine Seite für einen Kompromiss bereit ist.

Technische Details

FSK: ab 0 Jahre
Ton: Dolby Digital 5.1 (Deutsch, Englisch)
Bild: 2,35:1 (16:9 anamorph)
Untertitel: Deutsch, Englisch
Bonusmaterial: Interview mit dem Regisseur und den Darstellern, Trailer, B-Roll

Dana Greve - myFanbase
15.07.2011

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