Bewertung
Shari Springer Berman, Robert Pulcini

Cinema Verite

"There are some people who say that when you turn a camera on things, the truth just rises to the surface."

Inhalt

Im Jahr 1973 kommt es zu einer Revolution im Fernsehen: der Sender PBS strahlt "An American Family" aus, eines der ersten TV-Realityformate überhaupt. In der Serie wird das Leben der Familie Loud, allen voran das von Pat Loud (Diane Lane) und ihrem Mann Bill (Tim Robbins), thematisiert. Doch wie sich schnell offenbart, ist die Familie Loud auf das von Regisseur Craig Gilbert (James Gandolfini) ins Leben gerufene Projekt nicht adäquat vorbereitet. Nicht nur die Ehekrise von Pat und Bill wird von Craig bewusst instrumentalisiert, auch die Homosexualität ihres Sohns Lance (Thomas Dekker) wird genutzt, um daraus einen kleinen TV-Skandal zu machen.

Kritik

Für sage und schreibe neun Primetime Emmy Awards war der HBO-Film "Cinema Verite" im September 2011 nominiert, nicht eine einzige Auszeichnung konnte man mit nach Hause nehmen. Dabei ist der Stoff, auf dem das Drama des Ehepaars Shari Springer Berman und Robert Pulcini basiert, insbesondere heute aktuell wie nie. In Zeiten, in denen ein beunruhigend hoher Prozentsatz der Bevölkerung Deutschlands denkt, dass die Geschehnisse der diversen "scripted reality"-Formate der Realität entsprechen und zusehends ans Licht kommt, mit welchen Machenschaften Reality-Serien ihre Darsteller bloßstellen und ausbeuten, kann der Blick zurück zu den Anfängen eine wichtige Orientierung darstellen. Man könnte feststellen, dass bereits damals munter getrickst wurde, damit das vermeintlich reale Geschehen immer eine Spur dramatischer ist, als es eigentlich wäre. Man könnte sich fragen, wie es eigentlich sein kann, dass es bis heute im Zweifel nur noch schlimmer geworden ist und Zuschauer noch viel mehr als zuvor nach derartigen Serien verlangen. Man könnte aufhören, bei so etwas mitzumachen, wo doch jeder bis auf die Macher der Realityformate nur verlieren kann. Oder man ignoriert das und redet sich weiter ein, dass zum "Hirn abschalten" dumme Unterhaltung gerade das Richtige ist, diejenigen, die sich da bewerben, es ja schließlich verdient haben, vorgeführt zu werden, und freut sich jedes Mal wieder darüber, dass es jemanden gibt, dessen Leben noch verkorkster ist als das eigene.

Dass "Cinema Verite" als Anlass genommen wurde, um über diese Dinge ausführlich zu diskutieren, ist leider auch in den USA nie wirklich geschehen, obwohl man es dort mindestens ebenso nötig gehabt hätte, die Sehgewohnheiten des Großteils der Bevölkerung in Frage zu stellen. Aber letzten Endes lief der Film auch auf dem Pay-TV-Sender HBO und war damit ohnehin nur für eine recht exklusive Zuschauerschaft überhaupt verfügbar. Nachdem HBO für Qualität steht, haben sie sich beim Drama um eine der ersten Reality-Serien natürlich auch nicht lumpen lassen: mit Diane Lane, Tim Robbins und James Gandolfini hat man eine durchaus erlesene Schauspielgarde versammelt. Dabei darf insbesondere Diane Lane glänzen. Es ist nicht nur ihre Aufgabe, die Familie zusammenzuhalten, auch wenn mit Lance eines ihrer Kinder weit weg zieht und dort sein Glück verseht, und vor allem auch wenn ihr Mann kaum als Familienoberhaupt taugt, da er praktisch nie daheim, sondern lieber auf langen "Geschäftsreisen" ist (bzw. vielmehr seine zahlreichen Frauengeschichten pflegt). Sie möchte auch nichts mehr, als dass ihre Familie in diesem TV-Experiment möglichst positiv dargestellt wird, auch wenn sie weiß, dass die Fassade bereits bröckelt. Sie hat auch deshalb zugestimmt, Teil von "An American Family" zu sein, da sie gehofft hat, dass ihr Mann sich nun wieder mehr ihr und ihrer Familie widmen würde.

Und nahezu nebenher versucht sie noch mit einer gewissen Grazie und Verve all das, was ihr Mann ihr immer und immer wieder antut, indem er mal so eben monolateral eine offene Beziehung ausgerufen hat und es dementsprechend krachen lässt, hinzunehmen und darauf bewusst nicht allzu viele Gedanken zu verschwenden, um das zerbrechliche Gebilde Familie nicht zu zerstören. Spätestens, als – auch bedingt durch einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss, den Craig Gilbert darauf mit seiner Herangehensweise an eine TV-Sendung hatte – die Eheprobleme offensichtlich werden und nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden können, entfaltet Diane Lanes Pat die Facette der kämpfenden Löwenmutter und schafft es so, dem Film maßgeblich ihren Stempel aufzudrücken.

Tim Robbins als ihr Ehemann Bill ist zwangsläufig als eher unsympathischer Zeitgenosse ausgelegt. Jedoch kann man bei ihm gut nachvollziehen, wie jemand wie Pat seinem Charme erliegen konnte und trotz all der emotionalen Demütigungen 22 Jahre lang bei ihm blieb. Robbins spielt den großspurigen Sonnyboy, der sich alles mühsam selber erarbeiten musste und nun der Meinung ist, seinen aktuellen Status genießen zu müssen, absolut überzeugend. James Gandolfini als TV-Regisseur Craig Gilbert macht unterdessen einen interessanten Wandel durch. Anfangs noch als idealistischer Pionier dargestellt, der nicht weniger als das Fernsehen revolutionieren möchte, wird er später zu jemandem, der die Grenzen zwischen Realität und Drama bewusst verwischen möchte und dafür auch mal extreme Situationen provoziert, weil diese die Serie interessanter machen. Die innere Zerrissenheit, die ihn zwangsläufig plagen muss, wird, bedingt dadurch, dass sich der Film insbesondere auf Pat und Bill konzentriert, leider nur angedeutet. Aus schauspielerischer Sicht kann man jemandem wie Gandolfini ohnehin nichts anlasten, nur wundern darüber, dass er in der Filmbranche anscheinend immer noch nicht das Standing hat, das er sich als Tony Soprano bei "Die Sopranos" im Bereich der Serienlandschaft verdient hat.

Wenn man bedenkt, wie bahnbrechend "An American Family" damals war – dass vor laufender Kamera jemand die Scheidung einreicht war ebenso ungewöhnlich wie der Umstand, dass die Homosexualität des Sohns Lance wie selbstverständlich Teil des Familienlebens war und seine Mutter Pat ihn dabei stets unterstützt hat – muss ein Film darüber natürlich auch entsprechend gut aussehen. Nun ist bekannt, dass sich HBO diesbezüglich nie etwas zu Schulden kommen lässt und daher auch diesmal wieder das Leben der 70er Jahre ebenso optisch durch die Umgebung, die Autos und natürlich auch die Kleidung dem Zuschauer auf wirklich eindrucksvolle Art und Weise näher bringt. Um immer den Bezug zum Original zu bewahren und die Parallelen aufzuzeigen, werden zudem immer wieder bewegte Bilder aus der damaligen Serie eingestreut, wodurch das Ganze deutlich plastischer wirkt.

Das große Problem, das "Cinema Verite" jedoch hat, ist, dass es sich mit einer Laufzeit von gerade mal 90 Minuten deutlich zu kurz anfühlt. Auch ohne das PBS-Original zu kennen, hat man den Eindruck, als ob unzählige Aspekte der damaligen Serie nur unzureichend wiedergegeben wurden. So manches fühlt sich verkürzt und gehetzt an. Bei sieben Monaten Drehzeit für "An American Family", die schließlich zu zehn Stunden TV-Serie führten, geht natürlich zwangsläufig etwas verloren, wenn man das Geschehen auf einen Bruchteil zusammenzuschrumpfen versucht. Aber mit einer halben Stunde mehr wäre schon einiges möglich gewesen, zumal der Film ja auch den Anspruch hat, die Hintergründe der PBS-Serie zu beleuchten. In dem Zusammenhang wäre es durchaus angebracht gewesen, die Auswirkungen, die die Ausstrahlung sowohl auf die künftige Fernsehlandschaft, aber vor allem auf die Familie selbst hatte, noch deutlicher herauszustellen. Am Ende wird zwar ein Versuch unternommen, durch den Ausschnitt aus einer Talkshow, bei der sich die (echten) Familienmitglieder und Craig Gilbert zu Wort melden, sowie durch die "Where are they now?"-Montage, aber ein wenig mehr Zeit hätte man darauf schon verwenden können.

Fazit

"Cinema Verite" zeigt, wie bereits bei den ersten Versuchen, Reality-TV an den Mann zu bringen, getrickst und manipuliert wurde und wie diejenigen, deren Leben das Fernsehen verfolgte, letzten Endes auch darunter litten. 40 Jahre später befindet sich diese Entwicklung auf einem absoluten Höhepunkt (bzw. geistigen Tiefpunkt). Schon allein deshalb ist es ein wichtiger Film, den Shari Springer Berman und Robert Pulcini gedreht haben. Zudem wissen vor allem Hauptdarstellerin Diane Lane und das gesamte Setting sehr zu überzeugen. Mit einer höheren Laufzeit, die es erlaubt hätte, nicht nur an der Oberfläche zu kratzen, wäre "Cinema Verite" ein signifikanter Beitrag zum heutigen Diskurs geworden. In der jetzigen Form kann er zumindest Diskussionen fördern, was in der heutigen Zeit ja auch schon mal was ist.

Andreas K. - myFanbase
01.01.2012

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