Bewertung
Sherry Hormann

3096 Tage

"Es war klar. Nur einer von uns beiden würde überleben. Und am Ende war ich es – nicht er." Das tragische Schicksal der Natascha Kampusch.

Foto: Copyright: Paramount Home Entertainment Germany GmbH
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Inhalt

Wir schreiben den 2. März 1998. Die damals zehnjährige Natascha Kampusch (Antonia Campbell-Hughes) wird nach einem Streit mit ihrer Mutter auf dem Schulweg vom arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Přiklopil in einen weißen Lieferwagen gezerrt und acht Jahre lang in einem spärlichen Kellerverlies festgehalten. Gewalt, Demütigung und Machtspiele bestimmen die Jugend Nataschas. Doch sie zerbricht nicht – sie wird stärker. Im Baumarkt, im Skiurlaub – Kampusch kann nicht fliehen, zu sehr hat ihr Peiniger sie im Griff. Er habe eine Pistole dabei, töte sie und alle anderen, er habe Sprengsätze an den Fenstern platziert. Am 23. August 2006 nimmt Natascha all ihren Mut zusammen und ihr gelingt das Unmögliche: die Flucht. Natascha sollte den Lieferwagen staubsaugen, den Přiklopil verkaufen wollte. Während er telefonierte, floh Natascha vom Grundstück und wartete in einem Schrebergarten einer Frau auf Hilfe. Wolfgang Přiklopil nimmt sich daraufhin das Leben.

Kritik

Ich hätte niemals gedacht, dass eine Literaturverfilmung es schafft, das Gefühl, die Botschaft und die Emotion so rüberzubringen wie ein Buch.

Natascha Kampusch, damals zehn Jahre alt, wacht am Morgen auf. Ihre Mutter hat ihr ein Kleid zurückgelegt, das sie nicht anziehen möchte, da sie sich darin zu dick fühlt. Natascha isst gern, ist ein wenig korpulenter und war am Vorabend wieder mal mit ihrem Vater in der Stammkneipe. Als Nataschas Mutter dann die Hand ausrutscht, kommt es zum Eklat. Natascha verlässt wütend mit ihrem Trolley in der Hand das Haus und macht sich auf den Weg zur Schule. Und hier endet der Einblick in Nataschas Leben vor der Entführung auch schon. Sofort wird sie von Wolfgang Přiklopil geschnappt und in dessen Wagen verfrachtet. Ein Bruch, der die ganze Beziehung, die man in den letzten Minuten zu ihr aufzubauen versucht hat, zerstört. Hier fragt man sich nur: Was ist Natascha für ein Mensch? Wie ist die Beziehung zu ihrer Mutter? Ist dieser Alltag für sie normal?

Was mir eindeutig den ganzen Film lang gefehlt hat, ist die Aktion, die Reaktion, das Leben ohne Natascha – Wie fühlt es sich an, wenn die Tochter einem weggerissen wird? Schuldgefühle? Trauer? Ein tiefer Schmerz? Oder doch die Leere, die Stille? Spontan kann ich mich nur an drei Szenen nach der Entführung mit der Familie erinnern. Eine von ihnen: Mutter Kampusch mit Oma Kampusch am Weihnachtsbaum, bedrückte Stimmung. Aber was ist mit dem Rest? Wie waren Nataschas Geburtstage? Gab es Hoffnung? Fragen, die sich mir nicht erschließen. Natürlich muss, soll und darf man dem Zuschauer nicht alles auf dem Silbertablett servieren, gerade nicht bei einem so komplexen, tiefgreifenden und emotionalen Thema, aber ein bisschen mehr Story rund um die Entführung, vielleicht auch noch mehr um Přiklopil hätte dem Film nicht schlecht getan.

Das Verlies ist nur um die 2m² groß, spärlich eingerichtet, dafür gemacht, um darin verrückt zu werden. Mit allen Mitteln versucht Natascha das Vertrauen ihres Entführers schon am Anfang zu gewinnen. Immer wieder fragt sie, wann sie denn gehen dürfe, doch dann sind auch wieder die Momente, in denen sie ihn nach einem Gute-Nacht-Kuss fragt und sich nach Zuneigung sehnt. Trotz toller Kameraführung hat man es hier eventuell übertrieben mit der Inszenierung totaler Unterwerfung und Brutalität, denn nach der Hälfte des Films hatte ich mich irgendwann fast an die ständigen körperlichen und verbalen Attacken auf Natascha gewöhnt, so rabiat das jetzt vielleicht daherkommen mag. Diese Zeit wäre wertvoll gewesen für die Story, die sich hinter der Hauptkullisse abgespielt hat.

Teilweise hat mich Natascha echt an den Rand der Verzweiflung gebracht. Warum ist sie beim Ausflug in den Baumarkt nicht abgehauen? Warum hat sie nicht um Hilfe geschrien, als die Nachbarin über die Hecke geschaut hat? Warum hat sie nicht das heiße Bratenöl über Přiklopil geschüttet und ihm die Pfanne über den Kopf gehauen? Fragen, die ich mir wahrscheinlich nie beantworten kann. Hätte ich es getan? Noch eine unbeantwortbare Frage. War sie wirklich so sehr an ihren Peiniger gebunden? Hat sie ihm alle seine Lügen geglaubt? Hat sie sich selber schon aufgegeben? Und wenn ja: Woher kam dann auf einmal der Mut abzuhauen? Letztendlich zählt nur, dass sie es geschafft hat, neugierig macht es einen allerdings schon. Wahrscheinlich war es der Moment, indem sie sich unbeobachtet gefühlt hat. Während ihr aufgetragen wurde, diesen Wagen zu säubern, hatte Přiklopil genug Vertrauen zu ihr aufgebaut, um sie einen Moment lang allein zu lassen. Diesen hatte Natascha genutzt. Darauf hatte sie ganze acht Jahre lang gewartet.

Die für mich wohl emotionalste Szene des ganzen Films war die am Waschbecken. Wolfgang wollte Natascha die Haare waschen. "Du bist nichts wert!" Das hat er ihr immer und immer wieder eingeredet. "Doch bin ich!", hat Natascha dann geantwortet. "Na und warum zahlen deine Eltern dann kein Lösegeld?" Und so ging das Spiel hin und her, bis Přiklopil irgendwann der Kragen platzte. Selbstmordversuche hatte Natascha im Buch, im Film und natürlich auch in der Wirklichkeit hinter sich, immer wieder packte sie dann allerdings die Lebenslust, sie wusste, dass nur einer von ihnen das Martyrium überleben würde und Natascha wollte so lange kämpfen, bis sie weiß, wer es überlebt. Macht – der Ansporn für Přiklopil. Mit Sex wurde Natascha "belohnt". An seine Hände gefesselt konnte man die Unlust und die Schwäche in Nataschas Augen erkennen. Das hat einen echt gequält. Und vor allem, niemand konnte sehen, was in ihm vorging, nicht mal seine Mutter hat etwas geahnt. Er war ein, mehr oder weniger, für Außenstehende normaler Mann.

Noch heute steht Kampusch oft im Mittelpunkt der Medien. Sie macht sich zur Zielscheibe, wird von der Außenwelt heftig kritisiert und beschimpft. Stimmt das alles wirklich so? Oder ist nicht alles, was sie sagt, die Wahrheit? Natascha wirkt nicht wie das typische Opfer. Sie spricht, will den Menschen helfen, ist selbstbewusst. Das gefällt vielen Menschen anscheinend nicht. Der Kampf um die Freiheit ist für Natascha Kampusch daher heute immer noch nicht vorbei.

Fazit

Ein Film, der einen unendlich lange nachdenken lässt. Er macht Angst, er macht traurig und er erzählt eine fast unwirklich wirkende Geschichte. Wer sich sowieso schon, wie ich, vorher Dokumentationen über Natascha Kampusch angesehen hat, mit dem Thema mehr oder weniger vertraut ist, das Basiswissen hat und weiß, worauf er sich einlässt, der kann den Film auf jeden Fall sehen. Mich hat er gefesselt und immer und immer wieder stellt man sich die Frage: Kann mir das auch zustoßen? Und vor allem: Was hätte ich in dieser Situation gemacht?

Luis Link - myFanbase
29.09.2013

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