Bewertung

tick, tick... Boom!

Foto: Andrew Garfield, tick, tick... Boom! - Copyright: 2021 Netflix, Inc.
Andrew Garfield, tick, tick... Boom!
© 2021 Netflix, Inc.

Inhalt

Im New York 1990 ist Jon (Andrew Garfield) ein aufstrebender Musicalkomponist, der nebenbei in einem Diner arbeitet, um sich finanziell über Wasser halten zu können, während er auf den Durchbruch wartet. Kurz vor der Workshop-Vorführung seines Musicals steht Jon unter immensem Druck: seine Freundin Susan (Alexandra Shipp) verlangt eine Entscheidung bezüglich ihrer gemeinsamen Zukunft, sein bester Freund Michael (Robin de Jesus) bringt finanzielle Sicherheit ins Spiel und sein Produzent Ira Weitzman (Jonathan Marc Sherman) fordert noch eine musikalische Nummer für das Stück ein. Während die Uhr unerbittlich abläuft, muss sich Jon klar werden, was für ihn wirklich wichtig ist.

Kritik

Um die Umstände von "tick, tick… Boom!" zu erklären, muss etwas weiter ausgeholt werden. Es handelt sich um ein Musical des 1996 mit gerade mal 35 Jahren verstorbenen Jonathan Larson, worin dieser in semi-autobiographische Art und Weise die Zurückweisung verarbeitet, die er mit seinem zuvor angefertigten Musical "Superbia" erfahren hat. "tick, tick… Boom!" war zunächst als Ein-Mann-Stück entwickelt worden, bei dem es nur ihn als Protagonisten und eine Rockband auf der Bühne gab, was für die damalige Zeit Neuland war und Aufsehen erregt hat. Nach Larsons Tod ist dieses Werk noch einmal neu arrangiert worden, so dass es neben Charakter Jon nun auch Susan und Michael auf der Bühne gab, die die komponierten Stücke mit intoniert haben. In eben dieser Version ist "tick, tick… Boom!" nun von dem im Musicalgeschäft ebenfalls beheimateten Lin-Manuel Miranda für die große Leinwand inszeniert worden, was gleichzeitig seine Premiere als Regisseur eines langen Films darstellt. Trotzdem ist die Verfilmung noch um eine weitere Ebene ausgebaut worden, denn es werden nicht nur nie Ereignisse auf der Bühne dargestellt, sondern auch die tatsächlichen Ereignisse, die Larson inspiriert haben. Das ergibt einen vielschichtigen Film, das volle Aufmerksamkeit beim Sehprozess einfordert, aber speziell daraus auch seine Faszination entwickelt.

Wenn man wie ich mit dem Werk von Jonathan Larson überhaupt nicht vertraut ist (wenn mir auch sein erfolgreichstes Musical "Rent" durchaus ein Begriff ist), braucht es bei "tick, tick… Boom!" länger, um sich in der Inszenierung wirklich zurechtzufinden, denn die verschiedenen Ebenen gehen nahtlos ineinander über, ergänzen sich und lassen daher wenig Raum, um sich zwischendurch allzu große Gedanken zu machen, da man sonst schon wieder Wichtiges verpassen würde. Im Verlauf der Handlung konnte ich mir einiges zusammenreimen und dennoch habe ich mich hinterher erst einmal ausgiebig in seine Geschichte eingelesen, was Vieles aus dem Film noch einmal viel besser erklärt hat. Auch wenn ich nicht finde, dass das fehlende Wissen den Film maßgeblich negativ für mich beeinflusst hat, so würde ich anderen Laien von Larsons Werk schon raten, sich auch vorher mit seinem Leben und seinen Intentionen vertraut zu machen. Aber auch so oder so empfinde ich es immer als befriedigend, wenn mich eine Produktion dazu bewegt, mich wirklich in eine Thematik eindenken zu wollen. Damit ist der Auftrag immer erfüllt.

Was mich an "tick, tick… Boom!" besonders fasziniert hat, das war definitiv die Art und Weise, wie das Musical mit seinen Musikkompositionen bestückt wurde. Denn immer wieder brechen die Charaktere, speziell hier Jon, Susan und Michael, in Gesang aus und die Texte sind manchmal so unglaublich banal, dass ich mich gefragt habe: Das funktioniert wirklich? Da singt Jon in "30/90" davon, dass bald sein 30. Geburtstag naht und er sich dieser Zahl gar nicht stellen will, weil er im Leben noch nichts erreicht hat. In "Sunday" wiederum verarbeitet er seine Erlebnisse, die er im Diner hat, in dem er arbeitet. Natürlich ist Musik immer eine Verarbeitung von dem, was einen als Künstler*in umgibt und doch sind die Texte wirklich einfach gehalten und verfehlen ihre Wirkung dennoch nicht. Hier kommt das Arrangement ins Spiel, das im Film gleich auf zweifache Art und Weise genial umgesetzt wird. Zum einen sind die 'einfachen' Texte in spielerische Melodien gekleidet, die sofort eine energetische Wirkung erzielen. Zum anderen werden die Versionen aus Jons 'echtem' Leben mit der Bühnenversion, wo Karessa (Vanessa Hudgens) und Roger (Joshua Henry) Susan und Michael darstellen, oft überlappt, was ebenfalls dazu beiträgt, das die Musikstücke oft eine Wirkung erzielen, die ich ihnen nur rein vom Text so nie zugetraut hätte. Wenn die Handlung auch viele emotionale Tiefschläge bereit hält, so ist der Soundtrack mir als sehr positiv sofort im Ohr hängen geblieben und selbst das eine zentrale Balladenstück, wo der Film drauf hinarbeitet, ist in jeder Pore mit Hoffnung erfüllt.

Als weiteres Hauptaugenmerk des Films erweist sich die Darstellung von Künstler*innen und den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen. Die drei zentralen Hauptfiguren Jon, Susan und Michael sind alles kreative Persönlichkeiten, die dennoch völlig unterschiedlich zu ihrer Leidenschaft stehen und manchmal auch einfach Opfer der gesellschaftlichen Umstände sind. Susan ist eine begabte Tänzerin, deren Karriere aber jäh ausgebremst wird, als sie sich schwerer verletzt. Zwar muss sie ihren Traum des Tanzens nicht begraben, doch New York ist ein hart umgekämpftes Pflaster, weswegen sie sich schließlich außerhalb orientieren muss. Michael ist schwul, HIV-positiv und erkennt schließlich, dass seine Zukunft nicht im Schauspiel liegt. Nicht, dass er dafür nicht weiterhin brennen würde, aber mit seinen Voraussetzungen, die ihn gerade 1990 noch sozial brandmarken, ist es ihm wichtiger, einen gut dotierten Job zu haben und sich so finanziell absichern zu können. Die beiden stehen also eher dafür, sich den Umständen anzupassen und dafür die Träume etwas zu verschieben, während Jon aber kein Pardon kennt. Er ist zwar nicht hart im Umgang mit ihnen, dafür ist er als Mensch viel zu sanft mit seinen Liebsten, aber er verrennt sich oft so in seiner Leidenschaft, dass er die anderen schon mal vor den Kopf stößt. Er hat dennoch an ihrem Schicksal Anteil, gerade das HI-Virus, das in seinem Freundeskreis grassiert, setzt ihm schwer zu, aber für nichts und niemanden würde er seinen Traum aufgeben. Zuletzt ist es in dem Zusammenhang auch sehr interessant, wie Jons Schaffensprozess inszeniert wird, denn sein heftiger Streit mit Susan, als sie eine Entscheidung verlangt, ob er mit ihr wegzieht, inspiriert ihn gleich zu einem neuen Musikstück. Susan merkt daraufhin, dass er nur halb bei ihr ist, weil er gleichzeitig schon wieder seiner Kreativität nachgeht. Das ist für sie frustrierend, aber fängt natürlich eine nicht zu stoppende Künstlerseele perfekt bildlich ein.

Einen entscheidenden Anteil am Gelingen des Films haben natürlich vor allem die Darsteller*innen. Zuvorderst muss Andrew Garfield in der Hauptrolle benannt werden, da er nahezu perfekt das Bild eines besessenen (nicht negativ gemeint!) Künstlers transportiert. Seine Rauschzustände, wo er regelrecht in seiner Musik aufblüht, stellt er genauso überzeugend dar wie seine emotionalen Tiefpunkte, wenn er sich von Michael und Susan verlassen fühlt. Auch wenn ich über Larson selbst nicht viel weiß und es anhand seines Wikipedia-Eintrags nicht einschätzen kann, ob damit seine Persönlichkeit getroffen ist, gehe ich schon davon aus, weil dieser mit "tick, tick… Boom!" im Grunde sein Selbst auf dem Silbertablett präsentiert hat. Zudem merkt man an der Art des Arbeitens und des Aufgehens in Projekten auch viel von der Art von Regisseur Miranda selbst, den ich schon deutlich besser kenne. Deswegen glaube ich auch, dass daher seine Faszination für Larson rührte, weil sie von einem Menschenschlag sind. Daher wundert es dann auch kaum, dass es ihm bei Garfield gelungen ist, die ideale Besetzung zu finden. Aber auch sonst ist der Cast nicht zu verachten. Shipp und de Jesus spielen Jons engste Bezugspersonen auch sehr überzeugend. Es sind beides grundsympathische Persönlichkeiten, die angesichts von Jons Eifer manchmal überfordert sind und sich bemühen müssen, seine Träume nicht mit Realismus auszubremsen, aber die tiefe Liebe füreinander, trotz vieler Rückschläge, das ist im Schauspiel immer zu merken. Aber auch die Nebenrollen, wo es dann auch um viele tatsächliche Persönlichkeiten geht, sind gut besetzt worden, so dass wirklich ein überzeugender Film entstanden ist.

Fazit

"tick, tick… Boom!" ist zugegebenermaßen ohne Vorkenntnisse zu Jonathan Larson und seinem Werk als Komponist inhaltlich eine Herausforderung, aber dennoch wird wohl jede*r spätestens durch die mitreißende schauspielerische Darbietung sowie die energetische Musik in den Bann gezogen werden. Steven Levenson als Drehbuchautor und Lin-Manuel Miranda als Regisseur ist es damit definitiv gelungen, einem zu früh verstorbenen Ausnahmekünstler ein Denkmal zu setzen.

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Lena Donth - myFanbase
25.11.2021

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