Bewertung
Azazel Jacobs

Drei Töchter

Foto: Natasha Lyonne, Elizabeth Olsen & Carrie Coon, Drei Töchter - Copyright: 2024 Netflix, Inc.; Sam Levy/Netflix
Natasha Lyonne, Elizabeth Olsen & Carrie Coon, Drei Töchter
© 2024 Netflix, Inc.; Sam Levy/Netflix

Inhalt

Als der Familienpatriarch Vincent (Jay O. Sanders) im Sterben liegt, kommen seine drei grundverschiedenen Töchter Katie (Carrie Coon), Rachel (Natasha Lyonne) und Christina (Elizabeth Olsen) zusammen, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. In den drei gemeinsamen Tagen kochen aber viele lange begrabene Konflikte hoch, weil die Geschwister im Angesicht des lauernden Todes über die Vergangenheit, Gegenwart, aber auch Zukunft sinnieren.

Kritik

Mich hat der Film, der beim Toronto International Film Festival Premiere feierte und anschließend von Netflix für das eigene Streamingprogramm eingekauft wurde, sofort thematisch gereizt. Es ist sicherlich auch die Schwestern-Thematik, die aufgrund des Titels sofort ins Auge fällt, aber es ist vor allem die Thematik der Sterbebegleitung und die Beschäftigung mit dem Tod. Auch wenn ich die Ereignisse des Films auf privater Ebene zeitlich viel kompromittierter und auf eine andere Art und Weise komplex erlebt habe, so fühlte sich die ganze Inszenierung sehr persönlich an. Auch wenn genug Menschen leider völlig isoliert und vereinsamt sterben, so ist der Tod (Unfalltragödien sind hier selbstredend ausgeschlossen) doch in der Mehrheit ein Thema der Gemeinschaft und zwar in dem Sinne, dass biologische und/oder selbst gewählte Familie Anteil nimmt. Da aber jeder ein Individuum mit einer ganz eigenen Geschichte ist, prallen in solchen Ausnahmesituationen viele Überzeugungen aufeinander. Das wurde hier geschickt durch Drehbuchautor und Regisseur Azazel Jacobs gelöst, der mit den drei Schwestern sehr unterschiedliche Charaktere anbietet. Wenn man in einer ähnlichen Situation selbst schon mal war oder bei anderen Familien genauer hingehört hat, dann kennt man die Dispute, die hier aufkommen.

Katie und Christina sind biologische Geschwister, während Rachel nicht Vincents leibliches Kind ist, aber letztlich von ihm adoptiert wurde, als ihre Mutter die zweite Frau an seiner Seite wurde. Wir haben es hier also mit einer Patchwork-Familie zu tun, wobei viele der dargestellten Konflikte auch ganz ohne Stief- oder Adoptiv-Beziehungen auftauchen können. Explizit im Stiefkind-Dasein enthalten ist aber natürlich für Rachel das Gefühl, eine Tochter zweiter Wahl zu sein. Vincent gibt ihr keinesfalls dieses Gefühl, denn sie ist die Tochter, die geblieben ist und mit ihm die Wohnung teilt. Auch wenn Vincent tatsächlich erst ganz am Ende des Films seinen Auftritt hat und solange ein Monitor-Piepen in seinem Schlafzimmer ist, aber aus den Erzählungen und vor allem aus Benjys (Jovan Adepo) flammender Rede heraus wird deutlich, dass Rachel auch ohne gemeinsame DNA eindeutig sein Kind im Geiste ist. Doch kaum tauchen Katie und Christina auf, da stellt sich für Rachel ein Gefühl ein, das mir für sie beim Zusehen echt weh getan hat. Speziell Katie ist natürlich die Figur, an der man sich immer wieder stört. Sie ist die Macherin und sie will das Lebensende ihres Vaters unbedingt noch durch eine Patientenverfügung abgesichert haben. Sie will den Nachruf schon fertig haben und man wird auch das Gefühl nicht los, dass sie auch jede Minute des gemeinsamen Prozesses gerne durchplanen würde. Sie bulldozert durch die Wohnung und vor allem über die Gefühle von Rachel.

Man kann aber keinesfalls alle Konflikte an Katie festmachen, aber es dreht sich viel um sie, weil sie von allen drei Schwestern die unflexibelste ist. Aber sie lässt von Anfang an kein gutes Haar an Rachel. Sie würde nur kiffen, sie würde nicht einkaufen und sie würde sich aus den Betreuungsschichten ausklinken. Dabei fällt aber ein Argument zeitweise völlig unter den Tisch: Dass Rachel davor immer da war. Gleichzeitig eröffnet das aber ein anderes thematisches Feld, denn ist die Liebe für ein Elternteil, für ein Geschwisterkind etc. überhaupt zu messen? Und wenn ja, welche Währung käme da überhaupt wirklich in Frage? Rachel hätte den Faktor Zeit auf ihrer Seite, aber sie spielt das gar nicht aus, bekommt es aber umgekehrt indirekt untergejubelt, weil sich Katie und Christina umgekehrt so ihre Gedanken machen. Katie wohnt vielleicht nicht um die Ecke, aber ihre Anreise ist leichter zu machen als bei Christina, die mehrere Bundesstaaten weit weg wohnt. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ist das mögliche Erbe, was im Raum steht und was leider in vielen Familien nach dem Ableben zum Zankapfel wird. Hier geht es konkret um die Wohnung, die für die Lage in New York City eine erstaunliche niedrige Miete nur kostet und daher verlockend erscheint. Das sind so im Groben die Konflikte, die unterschwellig jeglichen Kontakt beeinflussen.

Mir persönlich hat Christina als Figur am besten gefallen, weil sie nicht nur charakterlich genau in der Mitte war, sondern auch auf dem Themenspektrum die Waage zu allem darstellte. Sie hat nicht so rigide Ansichten wie ihre ältere Schwester und sie sucht vor allem auch niemanden, um Vorwürfe abzuladen, stattdessen wirkt es eher so, dass sie nur bei sich immer Fehler sucht. Gleichzeitig hatte sie aber eine überraschende Leichtigkeit. Man hat gemerkt, dass sie immer mit einem Lächeln auf dem Gesicht ins Zimmer des Vaters gehen wollte. Aber sie war auch die Erste, die klar gesagt hat, dass sie nicht die ist, die ihre Schwestern in ihr sehen und sie genauer hinschauen müssen. Wenig überraschend waren die Dreiergespräche das Stärkste am Film. Denn mit Coon, Olsen und Lyonne sind drei extrem starke Schauspielerinnen gefunden worden, die in den intimen Seelengesprächen das meiste von sich und ihrem Talent zeigen konnten. Zumal man auch eine Entwicklung in der Gesprächsführung sieht. Zunächst ist viel von Missverständnissen geprägt und Rachel will am liebsten nur raus und Christina zurück ins Krankenzimmer, aber das bricht immer mehr auf.

Der Film ist dennoch in der Entwicklung nicht als klassisch dramaturgisch zu sehen, also dass es klare Handlungsabschnitte gäbe. Dafür ist es ein Ausschnitt aus einem sehr realen Schicksal, wie es tagtäglich auf der Welt passiert und auch wenn es immer heißt, das Leben schreibt die besten Drehbücher, so bedeutet es umgekehrt jedoch nicht, dass jedes Leben das perfekte Drehbuch schreibt. Deswegen ist das Ende für mich eine erreichte Etappe, aber kein genereller Abschluss. Vincent mag tot sein, aber für die drei Töchter und ihre jeweiligen Familien geht es weiter und wir werden nie erfahren, ob sie aus den drei Tagen etwas für den Umgang miteinander gelernt haben. Aber das passt in die Intention des Films. Regisseur Jacobs nimmt sich dann eine größere Freiheit, die ich auch sehr zu schätzen wusste, weil er ein rundes Element gesucht hat, um die Thematik Tod zum entscheidenden Punkt zu bringen. Ich bin auch überzeugt, dass sich mit dieser finalen Zeit auf Erden eine andere Wahrnehmung eröffnet. Da soll auch jeder seine eigene Vorstellung von haben, aber ich fand die Wahl hier wirklich sehr schön und tröstlich.

Der Film hat auch kleinere Stolperstellen für mich. Das ist sicherlich die Tatsache, dass Rachel als Figur so lange passiv bleibt. Das zuvor beschriebene Mitgefühl hat nämlich nicht sofort eingesetzt, stattdessen war sie zunächst zu zurückgezogen und hat sich auch selbst zu sehr in die Ecke begeben, alles nur noch völlig high und weggetreten zu erleben. Diese ganze Aura passt zu Lyonne, das steht außer Frage, aber ich bin froh, dass in der Mehrzahl andere Momente zustande kamen. Etwas irritierend fand ich auch die Darstellung von Angel (Rudy Galvan) oder auch der Krankenschwester (Jasmine Bracey), die für wenige Stunden am Tag zur Aufsicht kam. Letztere war eigentlich nur ein Huschen von Tür zu Tür, aber das mag auch an der Atmosphäre in der Wohnung gelegen haben, dass sie sich partout vor keinen Karren der Schwestern positioniert sehen wollte. Aber bei Angel lag mein Misstrauen nicht nur an der Zustimmung, dass er eigentlich einen anderen Namen hätte tragen müssen. Er kam mir durchgängig zwielichtig vor, was sicherlich nicht die Absicht war, weil er dafür für den Film auch eine zu untergeordnete Rolle spielt. Aber ich musste ständig an gerichtliche Betreuer denken, die eine ganz eigene Agenda haben. Angel wirkte zu glatt poliert und hat damit unnötig Alarmsirenen bei mir ausgelöst und so unnötig manchmal den Schwerpunkt der Erzählung abgelenkt.

Fazit

"Drei Töchter" ist ein sehr realer Film, der bei einem entsprechenden Interesse an der Thematik sicherlich zu überzeugen weiß. Schauspielerisch wird durch die Schwestern-Darstellerinnen viel geboten, weil sie die Kammerspiel-Atmosphäre angenommen und ausgespielt haben. Man muss aber die ruhigen Momente mögen. Ich finde die ganze Inszenierung auf jeden Fall sehr angemessen und würdig und angesichts meiner eigenen Erfahrungen als sehr realistisch. Kleinere Stolperstellen haben den Gesamteindruck nur minimal getrübt.

Zum Netflix-Special auf myFanbase

Lena Donth - myFanbase
25.09.2024

Diskussion zu diesem Film