Phänomen Gilmore
Der 10. April 2004 war ein trauriger Tag. Das Finale von "Dawson's Creek" flimmerte über die deutschen Bildschirme und als Dawson und Joey nach sechs Jahren somit für immer aus dem Fernsehen verschwanden, war ich sicher, dass es niemals mehr eine Serie geben wird, die mich derartig begeistern und fesseln kann. Trotz der Enttäuschung über die qualitativ schlechten letzten Staffeln und der Tatsache, dass Pacey und Joey für mich absolut das letzte Paar waren, das ich im Finale zusammen sehen wollte, hat mich die Serie doch über viele Jahre hinweg begleitet und hinterlässt schöne Erinnerung an tolle Geschichten, interessante Hauptcharaktere und hitzige Diskussionen mit anderen Fans.
Doch ich habe mich geirrt. Was für ein Zufall, dass im April auf Vox eine neue US-Serie an den Start ging und wir endlich die beiden kaffeesüchtigen, viel zu schnell sprechenden Mädels aus Stars Hollow kennen lernen durften, die sich in Amerika schon über viele Jahre hinweg erfolgreich in die Herzen der Fans spielten. Mich traf das gleiche Schicksal wie Tausende von TV-Zuschauern, die sich wohl eher zufällig auf Vox verirrt hatten: Das Gilmore-Fieber hat mich infiziert. Es griff rasend schnell um sich und widersteht seitdem hartnäckig sämtlichen Therapieversuchen. Damals flimmerte das ungewöhnliche Mutter-Tochter-Gespann zum ersten Mal über die deutschen Bildschirme – von da an sahen wir im Schnelldurchlauf gleich vier Staffeln, jede einzelne Folge dabei vom Produzenten- und Autoren-Paar Daniel Palladino und Amy Sherman-Palladino außergewöhnlich liebevoll und detailgenau gestaltet, wie man es aus Serien normalerweise nicht kennt. In insgesamt 87 Episoden erlebten wir den alltäglichen Wahnsinn einer liebenswerten amerikanischen Kleinstadt und seinen Einwohnern. Wir litten mit Lorelai, als sie Geldsorgen plagten, ärgerten uns über die versnobte Emily, fieberten gespannt mit, wie Rory sich im elitären Chilton durchboxte, fragten uns, wer der beiden Jungs wohl letztlich das Rennen bei ihr machen würde, und hofften, dass Luke sich endlich mal ein Herz fassen würde, um Lorelai davon zu überzeugen, dass er mehr kann, als Hamburger zu braten und die Gilmore Girls mit ihrem lebenswichtigen Kaffee zu versorgen. Es war also das passiert, was ich nicht für möglich gehalten hatte: Der Platz meiner Lieblingsserie wurde neu besetzt. Doch was genau ist es eigentlich, dass uns seit Monaten wochentags ab 16 Uhr an den Bildschirm fesselt?
Wie die Mutter, so die Tochter…
Augenscheinlich ist es die ungewöhnliche Beziehung der beiden sympathischen Hauptcharaktere, die uns keine Folge verpassen lässt. Lorelai Gilmore hat ihrer Tochter Rory weitaus mehr vererbt als ihre wahrscheinlich bereits angeborene Liebe für Kaffee und das Talent, sich wahnsinnig schnell zu artikulieren. Auf die außergewöhnliche Beziehung der beiden kann man eigentlich nur neidisch sein. Während die meisten von uns in ihrer Jugend wahrscheinlich froh waren, die Eltern möglichst weit von Freunden entfernt zu wissen, teilen Lorelai und Rory alle Geheimnisse und Verrücktheiten, haben einen ähnlichen Lebenswandel und die gleiche Vorliebe für ungesundes Essen – davon möglichst viel auf einmal. Lorelai hat Rory gezeigt, dass es nicht darauf ankommt, wie viele langweilige Wohltätigkeitsveranstaltungen man im Monat mit seiner Anwesenheit beehrt, und dass man auch ganz gut im Chaos leben kann, wenn man kein Hausmädchen hat, das den Dreck beseitigt. Zur Not ist unter dem Küchenschrank immer noch ein Plätzchen frei für Pizzareste und ähnlichen Müll, den es schnell zu entsorgen gilt. Die beiden führen ein herrlich normales und bodenständiges Leben mit alltäglichen Problemen und Sorgen, Liebesleid und Flirtereien über die Diner-Theke. Ganz im Gegensatz zu Lorelais Eltern, den reichen Gilmores aus Hartford, bei denen Lorelai sich nie in ihrem Leben wirklich wohl gefühlt hat.
Die zwei Welten
Die Städte Stars Hollow und Hartford stellen in der Serie zwei Welten dar, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Emily Gilmores Lebensinhalt scheint aus Wohltätigkeitsveranstaltungen und Country-Club-Besuchen zu bestehen, dabei hat es sich zum Running Gag entwickelt, dass sie in jeder Folge ein neues Hausmädchen hat, die das Essen serviert und herrlich respektlos behandelt wird. Selbstverständlich verzeiht man Emily ihre "one maid a week"-Attitüde, denn tief im Herzen ist sie ein guter Mensch. Sie kann es nur selten zeigen. Lorelai steht zwischen diesen beiden Welten, als sie mit Rory schwanger wurde, ist sie von zuhause ausgebrochen und hat den Kontakt erstmal auf Eis gelegt. Die wöchentlichen Abendessen sind ein elementarer Teil der Serie und sorgen immer wieder für Ärger, da Emily und Lorelai scheinbar einfach nicht miteinander klar kommen. Im Laufe der Staffeln hat sich ihr Verhältnis zwar gebessert, doch werden sie wohl nie eine Beziehung wie Rory und Lorelai haben, so sehr sich das beide wahrscheinlich auch wünschen würden. Die verbalen und oftmals dramatischen Schlagabtausche zwischen den beiden sind auf jeden Fall immer wieder ein Highlight der Serie – umso unverständlicher ist es für mich, dass dies seit Jahren konsequent von den Juroren der amerikanischen Awards wie Emmys und Golden Globes ignoriert wird.
Oy, wessen Anrufbeantworter ist das?
Leute, die meine Nummer wählen, werden im Fall meiner Abwesenheit mit einem absolut langweiligen 08/15-Spruch auf dem Anrufbeantworter begrüßt. Nicht so im Hause Gilmore. Wer von uns würde sich nicht freuen, im wahren Leben mal auf Lorelais abgedrehte Anrufbeantworter-Sprüche zu stoßen, wenn er wieder einmal über das übliche "Sprechen Sie nach dem Piepton"-Blabla den Kopf schüttelt und hofft, dass die verbalen Grausamkeiten möglichst schnell ein Ende haben, damit man seine Nachricht loswerden kann? Manchmal möchte man Lorelai aber auch schütteln, wenn sie wieder einmal mit einer neuen Verrücktheit ankommt und sich von schnurrenden Fell-Weckern oder Plüsch-Hammern begeistert wie ein kleines Kind zeigt. Bei mir schnurren nur lebendige Vierbeiner – solche, die Lorelai vermutlich als Verkünderinnen ihrer ewigen Bestimmung zur Einsamkeit von der Türschwelle jagen würde.
Verrücktheit ist die sympathischste Eigenart der Bewohner von Stars Hollow, die uns immer wieder zum Lachen bringen. Die schillerndste Figur ist wohl der arme Kirk, der jenseits der Jugendjahre immer noch bei seiner Mutter lebt und auch trotz mütterlichem Fahrradverbots und ohne eigenen Haustürschlüssel nicht daran denkt, das Nest zu verlassen. Unterschätzen wir vielleicht seine Mutter, die noch nie ein GG-Fan zu Gesicht bekommen hat? Möglicherweise kassiert sie seinen Lohn ein – denn der Vielfalt seiner Jobs nach zu urteilen, ist er finanziell gesehen womöglich nicht die schlechteste Partie in der Stadt. Sein Arbeitseifer ist jedenfalls einmalig, wird jedoch leider nicht von allen angemessen gewürdigt. Ich für meinen Teil würde ihn sofort als Hochzeitfotografen oder Lieferant für meine überdimensionale Geburtstagspizza engagieren - ein Mann, der trotz Gefahren wie möglichen Käseverbrennungen und Taylors verbalen Gemeinheiten vor keiner Herausforderungen zurückschreckt, und dazu noch hervorragend tanzen kann, verdient endlich einmal eine Würdigung seiner Mühen.
1001 Anspielung
Wer war noch gleich Norman Mailer? Ein großer Fehler: Nur mit einem Ohr hinzuhören, wenn die Gilmore Girls auf dem Bildschirm ihre Wortgefechte austragen. Denn Lorelai und Rory reden nicht nur fernseh-untypisch außergewöhnlich schnell, die Autoren verstecken in ihren Dialogen auch immer wieder intelligente Anspielungen auf Musik, Film und Fernsehen, Literatur und Geschichte. Anspielungen, die Otto-Normal-Zuschauer erstens nur zur Hälfte wahrnimmt, und sie zweitens auf Anhieb kaum versteht. Wer erkennt schon, welches Shakespeare-Sonett Paris mal wieder gerade rezitiert? Wenigstens Noam Chomsky ist mir ein Begriff, dessen Poster als politisches Statement der Serie in Paris Wohnheimzimmer hängt, und mit dessen Werken ich in meinem Studium Bekanntschaft machen durfte. Auf jeden Fall sind diese Anspielungen die perfekte Ausrede, die Folgen mehr als einmal zu schauen – beim ersten Mal bekommt man sowieso nur die Hälfte mit.
Es lohnt sich auch ein Blick in die Liste der Original-Episodentitel, denn Amy Sherman-Palladino liebt das Spiel mit Doppeldeutigkeit, Buch-, Film und Songtiteln. Die deutschen Titel lassen diese Kreativität zwar wie üblich vermissen, dafür ist die Synchronisation ungewöhnlich originalgetreu und geistreich – auch wenn sie, wie bei praktisch jeder Serie, einem Vergleich mit den Originalstimmen nicht standhalten kann. Lauren Graham ist nun einmal unschlagbar – zumindest wenn es um Sprechgeschwindigkeit und Zungenbrecher geht.
Ein Gilmore Girl bleibt nicht lange allein…
Trotz teilweiser abscheulicher Essgewohnheiten und merkwürdiger Lieblingsbeschäftigungen können sich Lorelai und Rory über mangelnde Angebote von Seiten des starken Geschlechts nicht beschweren. Liegt dies an der Tatsache, dass sie einen wundersamen Kreislauf ihr eigen nennen dürften, der ihnen trotz täglichen Fastfood-Konsums eine Figur beschert, von der die meisten ihre Zuschauerinnen nur träumen können? Das Thema Liebe kommt auf jeden Fall in der Serie nicht zu kurz – auch wenn die beiden Hauptfiguren in Herzensangelegenheiten von Grund auf verschieden sind.
Rory ist, bei aller Ähnlichkeit zu ihrer Mutter, in Beziehungsfragen zumindest in den ersten vier Staffeln die Beständigere. Zwei Jahre lang ist sie mit Dean zusammen, der mehr oder weniger der perfekte erste Freund war. Danach kam Jess, was allerdings aufgrund Milo Ventimiglias Ausstieg aus der Serie nicht allzu lange gehalten und zu großem Entrüsten bei den weiblichen Fans geführt hat.
Lorelai ist da anders. Sie und Luke sind eigentlich das Anti-Paar im Fernsehen, und dennoch zieht sich ihre Geschichte durch vier Staffeln. Den etwas verschrobenen und unrasierten Diner-Besitzer Luke Danes mit schlechtem Kleidungsgeschmack, der seit 15 Jahren im ehemaligen Büro seines verstorbenen Vaters lebt und sich strikt gegen jegliche Veränderung des Diners oder womöglich sogar aktive Teilnahme an Stadtveranstaltungen sträubt, würde man wohl auf den ersten Blick nicht unbedingt als Traumprinzen identifizieren. Doch hat er sich im Laufe der Jahre als Lorelais wichtigster erwachsener Ansprechpartner für alle Lebens- und Gefühlslagen entpuppt und ist schnell zum heimlichen Publikumsliebling geworden. Egal was im Hause Gilmore auch zu richten ist, Luke nimmt es in die Hand. Dabei lebt die Serie von den Spannungen zwischen den beiden. Obwohl bereits in den allerersten Folgen deutlich zu sehen ist, dass zwischen den beiden weitaus mehr ist, als nur Freundschaft, dauert es doch 87 Episoden, bis es endlich zum heiß ersehnten Kuss zwischen Lorelai und Luke kommt. Fans der beiden Dickköpfe können sich auf die neuen Folgen freuen, soviel sei an dieser Stelle über die fünfte Staffel verraten, die bei uns wahrscheinlich im Herbst 2005 anläuft. Für mich steht auf jeden Fall fest, dass mein neues Lieblings-TV-Paar aus Stars Hollow kommt...
Wie es momentan aussieht, bleiben uns die Girls noch für mindestens eine weitere Staffel erhalten. Das bedeutet viele weitere wunderbare Folgen voller Kaffeesucht, Witz und Einblicke in das nicht ganz alltägliche Kleinstadtleben mit seinen Verrücktheiten der Hauptcharaktere. Und wer wundert sich nach fünf Staffeln noch ernsthaft über tanzende Rabbi-Figuren oder sprechenden Brokkoli? "It's the way the Gilmore's play." (Lorelai in 1.02 "Kill Me Now")
Sandra G. – myFanbase
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