Interview mit Nina Blazon - Teil 1

November 2015 | Nina Blazon zieht mit ihren Kinder- und Jugendromanen jährlich unzählige Leser in den Bann. Mal entführt uns die deutsche Autorin in düstere Fantasywelten wie in "Faunblut" und "Ascheherz". Ein anderes Mal findet man sich in die schaurige Vergangenheit zurückkatapultiert und kommt einem Mysterium auf die Spur, wie in "Totenbraut" und "Wolfszeit". Dabei verzaubert Blazon stets mit atmosphärischen wie fantasievollen Geschichten, getragen von einer bildgewaltigen und originellen Sprache. Seit Juni 2015 bereist die Autorin mit "Liebten wir" nun auch die Erwachsenenliteratur und nimmt den Leser mit auf einen verrückt-melancholischen Roadtrip nach Helsinki. Untreu wird Blazon ihren Stammlesern aber nicht. Seit dem 05. Oktober ist ihr neuer All-Age-Roman "Der Winter der schwarzen Rosen" im Handel erhältlich. Fragen dazu beantwortet die Autorin im nächsten Teil unseres mehrteiligen Interviews. Vorab gewährt sie uns einen neugierigen Blick hinter die Kulissen von "Liebten wir".

Foto: Nina Blazon - Copyright: Random House/Isabelle Grubert
Nina Blazon
© Random House/Isabelle Grubert

Im Juni erschien mit "Liebten wir" dein erster Roman für Erwachsene. Was hat dich daran gereizt, die gewohnten Genregefilde zeitweise zu verlassen und eine Reise in unbekanntere Gewässer anzutreten?

Das Projekt hat mich schon seit Jahren begleitet. Die ersten Charakterskizzen stammen noch aus der Zeit, bevor das erste Jugendbuch aus meiner Feder überhaupt veröffentlicht wurde. Über die Jahre kamen weitere Ideen dazu, das Projekt verschwand immer wieder in der Schublade und wurde wieder hervorgeholt – bis ich dann im Jahr 2010 eine Reise nach Helsinki machte und in dieser Stadt den perfekten Schauplatz und die passende Hintergrundgeschichte für eine der Figuren fand.

Bist du aufgrund der "neuen" Zielgruppe anders zu Werke gegangen als sonst oder gibt es da keine massiven Unterschiede bei der Herangehensweise? Deine Jugendromane sind immerhin auch All-Age-Romane, mit einer stets düsteren Atmosphäre zwischen den Zeilen.

Es war schon ein anderes Schreiben, die Charaktere durften schräger sein, aber auch gebrochener, beschädigter, als man es aus Jugendbüchern gewohnt ist. Die Herangehensweise war insofern einfach freier und experimenteller, sowohl in der Darstellung der Figuren als auch sprachlich. Und stimmt, der düstere Unterton ist in den All-Age-Büchern natürlich auch zu finden, allerdings ohne den direkten Bezug zu eigenen Familiengeschichten, in denen auf die eine oder andere Weise ja noch der letzte Weltkrieg bis in die heutige Generation widerhallt. In der Fantasy sind die Kriege fiktiv und in den historischen Romanen so weit weg, dass man sie als Leser mit mehr persönlicher Distanz wahrnimmt, selbst wenn das Schicksal der Protagonisten einen berührt.

In "Liebten wir" begeben sich Mo und Aino nach etwas unglücklichen Umständen auf einen Roadtrip von Travemünde nach Helsinki. Auf deiner Homepage lädst du zu einer kleinen Foto-Tour deiner Recherchereise ein. Wie kamst du auf Helsinki als Schaubühne? Was waren deine Highlights beim Besuch der Ostsee-Metropole?

Helsinki habe ich auf einer Reise für mich entdeckt. Damals zog ich einfach eine Woche los, im Hinterkopf nur die Filme von Aki Kaurismäki und die Vorstellung, dass in Finnland alle Menschen schweigend und depressiv in ihre halb leeren Wodka-Gläser starren, wenn sie nicht gerade in Metal-Bands spielen. Besondere Highlights gab es sehr viele. Ich war überrascht, wie lebendig und jung die Stadt ist. Im Sommer erinnert der Esplanade-Park an den Englischen Garten: Jugendliche liegen im Gras und sonnen sich, hören Musik. Am Südhafen treffen sich die Leute in den Buden zum Mittagessen und Kaffeetrinken, eine schöne Atmosphäre, beschwingt und entspannt. Wunderschön fand ich auch das Kunstmuseum "Ateneum" und die Werke der finnischen Meister aus dem 19. Und 20. Jahrhundert.

Hattest du vor Reiseantritt bereits zentrale Schauplätze und Sehenswürdigkeiten im Kopf oder wurdest du direkt vor Ort inspiriert? Nehmen wir als Beispiel die Szene im Ateneum, in der Mo von dem Aino-Triptychon angezogen wird und einen Einblick in die finnische Mythologie bekommt. Diente dir das dreiteilige Gemälde des Malers Akseli Gallen-Kallela als eine wegweisende Inspirationsquelle für Mos Geschichte?

Nein, die Stadt habe ich ganz ins Blaue hinein besucht. Das mache ich gerne auf solchen "Sternfahrten" – einfach losfahren, ohne vorher Reiseführer zu lesen und Ziele herauszupicken. Es ist viel spannender, eine Stadt, ein Land wie ein Reisender von früher zu entdecken, ohne Erwartungen und vorgegebene Sichtweisen, ohne In-Tipps und "Must sees". Nur beobachten, sich wundern, sich überraschen lassen und Fragen stellen und erst nach ein, zwei Tagen den Reiseführer ins Spiel bringen. Aus solchen Betrachtungen entstehen dann Momente wie die Szene, in der Mo im Ateneum das Gemälde der Sagengestalt Aino betrachtet.

Deine Ich-Erzählerin Moira "Mo" Vankanten ist eine Fotografin mit Scharfblick. Wie hast du dir ihre beachtlichen Fotografie-Kenntnisse für die Romanarbeit angeeignet?

Ich gehöre ja noch zur "analogen Generation", die das Fotografieren nicht mit Digitaltechnik erlernt hat. Die Rollei 35 S, die ich im Roman beschreibe, war früher meine Kamera und die Fotos habe ich selbst in einer Dunkelkammer abgezogen. So konnte ich für das Buch auf einige Grundkenntnisse zurückgreifen. Zu meiner Ausbildung zur Journalistin gehörte zudem das Seminar "Bildjournalismus". Für den Roman habe ich mir dann natürlich noch bei Fotografen Rat geholt und mir einiges zum Thema Porträt- und Werbefotografie erklären lassen. Und sehr erhellend waren auch die Texte "Über Fotografie" der Essayistin Susan Sontag.

Und was würde man auf einem Foto sehen, auf dem Mos und Ainos lebensverändernde Reise prägnant und unvergesslich einfangen wurde?

Da ich keine Fotografin bin, würde mein Bild wohl etwas platt und plakativ ausfallen. Hm, vielleicht Schuhe? Ainos rote Tanzschuhe, hingeworfen wie eine leergetanzte Erinnerung – und daneben Moiras bloße Füße am Saum der Ostsee, die Zehen schon von Meerwasser überspült.

Foto: Copyright: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Ist es eigentlich ein Zufall, dass Mo denselben Namen trägt wie deine Jägerin Moira aus "Faunblut" und "Ascheherz", oder hat der Name eine besondere Bedeutung für dich?

Ich wähle die Namen in den Romanen immer nach ihrer Bedeutung und Herkunft aus. Ein Zufall ist es also nicht, dass der Name in verschiedenen Genres verwendet wird. Er passt in beiden Fällen zur Rolle der jeweiligen Figur. Die drei Moiren kennt man ja in der griechischen Mythologie als Schicksalsfrauen, die das Geschick der Sterblichen lenken. Eine ähnliche Rolle spielt Moira aus "Liebten wir", was ihre eigene Familie angeht. Und die namensgleiche Jägerin Moira aus dem Fantasy-Roman "Ascheherz" hat eine ähnliche Funktion. Im entscheidenden Moment ist sie es, die ein Schicksal bestimmt. Wenn man in "Liebten wir" genau hinschaut, findet man weitere Namensbezüge zur griechischen Mythologie. Nicht umsonst heißt die Firma, bei der Aarto arbeitet, "Argo". Und die griechische Danae hat auch so ihre ganz eigene Geschichte, die ihr Echo in "Danis" Lebenslauf findet.

Moira und Aino sind Protagonisten mit scharfen Ecken und Kanten. Nebenbei spielen weitere, eigensinnige Charaktere eine gewichtige Rolle, wie etwa Mos nikotinsüchtige Schwester Danae und der finnische Musiker Aarto. Worin liegt für dich die Faszination solch streitbarer Figuren, die auch im realen Leben anecken würden?

Ehrlich gesagt finde ich es jammerschade, dass es nicht viel, viel mehr reale Menschen gibt, die anecken, andere herausfordern, ihren eigenen Kopf haben und es dem Umfeld nicht zu leicht machen, die Reibungsflächen statt glatter Oberflächen bieten. Martin Bubers Satz "Der Mensch wird am Du zum Ich" sagt es eigentlich schon: Wir brauchen Kontakt mit anderen, um uns selbst einzuordnen und zu entwickeln. Und genau dafür sind Menschen, die nicht nur perfekt, lieb und gefällig sind, wunderbare Partner. Sie bringen uns zum Nachdenken über uns selbst und andere. Gerade dann, wenn sie zu ehrlich, schräg, eigensinnig (beliebig ergänzen …) sind und uns aufregen können, und wenn sie sich – wie zum Beispiel Aino – schlichtweg weigern, in die Schablone "tüddelige, niedliche Oma" zu passen.

Wie näherst du dich deinen Figuren an? Zeichnest du schon vor dem Schreibprozess ein genaues Bild deiner Protagonisten oder ergibt sich vieles erst beim Schreiben?

Ich sehe die Person vor mir, höre ihre Sprache, sehe die Bewegungen, die Körpersprache. Erst sind es ein paar Merkmale, vier, fünf Ankerpunkte, quasi eine Skizze. Beim Schreiben kommen die Details hinzu, bis dann mit etwas Glück ein fotorealistisches Porträt entstanden ist.

Künstler beschreiben eine kreative Eingebung gerne mit den Worten: Ich wurde von der Muse geküsst. Was passiert, wenn dich die Muse küsst?

Das sind die seltenen Tage, an denen alles fließt, die Szenen wie ein Film vor mir ablaufen und der Text sich wie von selbst schreibt. Aber meistens habe ich wohl eine Vertretungsmuse, die einspringen muss, weil die richtige Muse Besseres zu tun hat. An diesen Tagen sitzen wir dann beide wortkarg am Schreibtisch, trinken zu viel Kaffee, atmen tief durch wie vor einem langen Lauf und geben uns dann ganz unmusenhaft schlichtweg Mühe.

Stellen wir uns vor, Mo stünde in deinem Arbeitszimmer und knipse ein Foto von dir bei der Arbeit. Was würde ihre Linse einfangen? Vielleicht eine Autorin mit zerzaustem Haar, tief versunken inmitten eines chaotischen Schreibbüros?

Genau das Gegenteil! Einen sehr spartanischen, sachlichen Schreibraum mit Terminkalender an der Wand. Und hinter dem Schreibtisch eine Frau, die ähnlich unglamourös wirkt. Aber ich bin sicher, Mo würde darauf achten, dass das einzige Bild, das neben dem Terminkalender an der Wand hängt, auf dem Foto deutlich zu sehen wäre. Darauf grinst ein mit Tusche gezeichneter Totenkopf und darunter prangt der Satz: "Am Ende bleibt ein Lächeln".

Würdest du dich als Perfektionistin sehen, wenn es um das Schreiben geht? Deine sorgfältigen Romanrecherchen und komplex verwobenen Geschichten erwecken durchaus den Eindruck. Oder siehst du dich eher als gut strukturiert?

Ich würde sagen: manisch strukturiert. (grinst)

Wo wir schon beim Thema sind: Wie behältst du während einer Geschichte die Fäden in der Hand, ohne dich zu verzetteln? Hast du eine bestimmte Methode oder einen ultimativen Masterplan parat? Schreibst du konsequent von Anfang bis Ende durch oder steigst du gerne mal querbeet in die Geschichte ein?

Ich schreibe ganz selten chronologisch. Die Schlüsselszenen entwerfe ich meistens als Erstes, das ist so etwas wie ein Trailer für den späteren Film. Und die Entstehung des Buches ist wahrscheinlich ein wenig so, als würde man Bob Ross beim Malen eines Bildes zuschauen: Man sieht ihn erst einmal sinnlos Farbflächen verteilen, scheinbar willkürlich Striche setzen, dann kommen Tupfer dazu, Schlieren und Flächen - und plötzlich verwandeln sich Farbtupfer in Bäume und die Schlieren in Spiegelungen auf einem See. Die zentralen Farben und die Striche setze ich mit den ersten Szenen. Danach mache ich Feinarbeit und schreibe mich weiter an die Personen heran, folge der Handlung von Schlüsselszene zu Schlüsselszene. Es ist ein bisschen schwierig zu erklären, weil es einerseits einer Struktur folgt, aber andererseits sehr viel mit Bauchgefühl und Intuition zu tun hat.

Foto: Copyright: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Was denkst du über kreative Schreibkurse? Inzwischen gibt es sie hierzulande vereinzelt an Universitäten, an Fern- und Volkshochschulen und auch Bücher und Internetseiten zum Thema Schreiben muss man nicht lange suchen. Kannst du diesbezüglich eine Empfehlung aussprechen oder kennst du sogar ein viel einfacheres Rezept für angehende Autoren?

Im Prinzip ist alles, was jemanden zum Schreiben bringt, gut! Denn Schreiben lernt man nur "by doing". Ein angehender Krimiautor sollte zudem natürlich wissen, wie ein guter Krimi-Plot funktioniert und wie man falsche Fährten legt. Doch Handwerk allein macht noch kein gutes Buch, dazu braucht es eine eigene unverwechselbare Stimme. Und gerade am Anfang eines Autorendaseins ist es wichtig, der Entwicklung und Festigung der eigenen Erzählstimme viel Raum und Zeit geben. Deshalb nicht zu früh nur nach bewährten Patentrezepten schreiben (auch wenn der Kursleiter seine eigenen Bücher genau auf diese Weise erfolgreich schreibt), sondern seiner eigenen Stimme Zeit geben. Und um sie zu finden und zu festigen, heißt es: schreiben, schreiben, schreiben!

Schaut man sich "privat" auf deiner Homepage um, findet man heraus, dass du neben Skandinavien und Nougat ebenso das Kino liebst. Wenn dir (d)ein Verlag morgen mitteilen würde, dass einer deiner Romane fürs Kino verfilmt werden soll, welcher sollte das sein? Würdest du das überhaupt wollen oder sollten Bücher deiner Meinung nach lieber unverfilmt bleiben?

Ich fände es tatsächlich schön, "Liebten wir" auf der Leinwand zu sehen. Einfach, weil man im Film noch so vieles zeigen könnte – die Gemälde von Gallen-Kallela, Rückblenden in Ainos Zeit als Lotta, das Helsinki des Winterkriegs...

Wirfst du manchmal noch selbst einen Blick in deine veröffentlichten Werke? Und bist du rückblickend zufrieden mit deinen Romanen, dem dort verwendeten Stil und den ausgearbeiteten Charakteren, oder würdest du heute einiges anders umsetzen?

Ich schaue nur ganz selten wieder in die Bücher. Meistens nur, wenn ich sie für Lesungen vor Publikum noch einmal hervorhole. Und sicher würde ich die Romane heute anders schreiben, was einfach daran liegt, dass man sich als Autor mit den Jahren entwickelt und verändert, was sich in den Büchern widerspiegelt. Wenn ich heute in meine ersten Fantasyromane reinblättere, fallen mir natürlich so einige Adjektive auf, die man streichen könnte. Aber ansonsten gehören diese Bücher einfach in eine bestimmte Zeit.

Bei "Liebten wir" lautet das Motto: "Manchmal muss man auf eine Reise gehen, um anzukommen". Hast du schon einen Leitspruch für deinen nächsten Erwachsenen-Roman im Kopf, der, wie du auf deiner Internetseite verrätst, auf Island spielen soll?

Der Leitspruch stammt nicht aus meiner Feder, sondern wurde im Lektorat geschaffen, um das Buch so treffend wie möglich zu charakterisieren. Und der Satz passt wirklich perfekt! Eigene Leitsätze für die Romane überlege ich mir im Vorfeld allerdings nicht, es sind eher Stimmungsworte, die ich im Hinterkopf habe. Für "Liebten wir" war ein solches Wort "Wasser", das sich ja als Motiv durch das ganze Buch zieht. Für Island passt dagegen am besten das Wort "Wind".

Doreen B. - myFanbase

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