Jahresrückblick 2015 - Die Neuentdeckungen, Teil 1

Foto:

Rund 90.000 Romane werden jährlich in Deutschland veröffentlicht – selbst wer viel Zeit hat, liest kaum 0,1 Prozent davon im Jahr. Die Literaturredaktion von myFanbase holt erstmal mit den Publikationen vergangener Jahre auf und erzählt, welche Neuentdeckungen sie 2015 besonders begeistern konnten. Bis auf zwei Ausnahmen stammen alle Romane, die wir zusammengestellt haben, übrigens aus dem neuen Jahrtausend.

Rückblick: Die besten Neuentdeckungen 2014

Isabella Caldart meint:

Roberto Bolaño - 2666 (2004)

Foto: Copyright: S. Fischer Verlag GmbH
© S. Fischer Verlag GmbH

Ah, die Entdeckung des Jahres! Was wurde nicht schon alles über "2666" geschrieben und jeder, der diesen epochalen Roman gelesen hat, schließt sich den Lobeshymnen an. In fünf locker miteinander verbundenen Teilen erzählt Roberto Bolaño von den Abgründen des menschlichen Wesens. Während Teil eins noch vergleichsweise harmlos beginnt – eine Gruppe obsessiver Germanisten macht sich auf die Suche nach einem verschollenen, deutschen Schriftsteller – wird es spätestens beim "Teil von den Verbrechen" nicht wenige Leser geben, die diesen Part komplett überspringen.

Es sind die feinsinnige Wortwahl, das Auge für das Detail, die komplexen, verwobenen Handlungen und die bis zum unwichtigsten Charakter ausgefeilten Figuren – also schlichtweg alles! –, die Bolaños Fertigkeiten auszeichnen und ihn zu einem der Größten machen. Er schreibt mit poetischer und zugleich grausamer Wucht. In "2666" analysiert er die menschliche Psyche, schildet die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und springt von einem Kontinent zum anderen – in einer Leichtigkeit, die ihm sprachlich bisher niemand nachahmen konnte.

Zadie Smith – Von der Schönheit (2005)

Rassismus, interkulturelle Differenzen, Kunst, Hip-Hop, Bildung, Untreue, Familie: Mit diesen Themen könnten mehrere Romane gefüllt werden. Zadie Smith gelingt das Kunstwerk, die komplexen Inhalte in einem Roman zu vereinen, der trotzdem kein bisschen überladen wirkt. "Von der Schönheit" berichtet von Howard Belsey, einem weißen Briten, und seiner schwarzen Frau Kiki, die in der Nähe von Boston leben. Die Kinder haben in ihrem Alltag mit Rassismus zu kämpfen, während Kiki an ihrem Übergewicht zu nagen hat. Da hilft es nicht, dass Details um Howards Affäre nach und nach an die Oberfläche gelangen. Zu allem Überfluss zieht Howards Erzfeind Monty Kipps von England in die direkte Nachbarschaft der Belseys und nimmt eine Stelle als Professor an der gleichen Universität an, an der auch Howard lehrt. Den Rest der Familie scheren Howards Ressentiments wenig. Sein Sohn verliebt sich in die bildschöne Tochter der Kipps', während sich Kiki mit Mrs. Kipps anfreundet.

Zadie Smith muss sich vor großen Namen wie Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides wahrlich nicht verstecken. Sie bildet vielmehr einen angenehmen Gegenpart zu den ewig weißen, heterosexuellen Männern der Mittel- und Oberschicht, die in ihren Romanen die Welt erklären möchten. Gewiss, Franzen ist großartig – aber es wäre wünschenswert, würden mehr Frauen und mehr People of Color gelesen, die neue Perspektiven eröffnen. Zadie Smith vereint beides in einer Person und reicht den Jonathans, den Franzens, Safran Foers, Lethems und wie sie alle heißen, locker das Wasser. "Von der Schönheit" vereint vielschichtige Motive und ist zugleich brillant erzählt. Ein großer Roman!

Patti Smith – Just Kids (2011)

Foto: Copyright: S. Fischer Verlag GmbH
© S. Fischer Verlag GmbH

Patti Smith bereichert die Welt seit Jahrzehnten mit ihren poetischen Songs. Zuerst habe sie allerdings Lyrikerin und Schriftstellerin werden wollen, erzählt sie in ihrer Autobiographie "Just Kids". Zwar hat Patti Smith bereits einige Lyrikbände veröffentlicht, mit "Just Kids" erfüllte sie sich aber den lebenslangen Traum, ein Buch zu schreiben und zu publizieren. Und was für ein Buch das geworden ist! "Just Kids" sind mehr als nur Memoiren, es ist das einzigartige Dokument einer längst vergangenen Zeit, in der New York City noch "rough" war, bevor der Kapitalismus endgültig gewann. Patti Smith protokolliert die Geschichte der Punkrock-Szene in ihrer Wahlheimat. Zugleich ist die Biographie eine Hommage an die Liebe. Der Künstler Robert Mapplethorne, zu der Zeit ebenfalls noch unbekannt, ist die Stütze in Patti Smiths jungen Jahren, wie auch sie ihn immer wieder aufbauen muss. Es ist dieser intensiven Freundschaft zu verdanken, dass beide Künstler das Durchhaltevermögen besaßen, nicht aufzugeben.

Patti Smiths New York ist düster, das verarmte Künstlerleben wird nicht romantisiert und doch wirkt ihre Geschichte ein wenig wie ein modernes Märchen. Stoff genug für eine Fernsehserie ist sie allemal: Im August gab Showtime bekannt, "Just Kids" als Miniserie zu adaptieren – und zum Glück wird Patti Smith eng in die Entwicklung der Serie eingebunden sen. Im März erscheint bei Kiepenheuer & Witsch übrigens Patti Smiths zweites Buch, "M-Train".

Bernardo Atxaga – Der Sohn des Akkordeonspielers (2003)

Baskische Literatur hat es schon innerhalb Spaniens nicht leicht, entdeckt zu werden. Im sonstigen Ausland bleiben Autoren aus dem Baskenland, besonders dann, wenn sie auf Baskisch und nicht auf Spanisch schreiben, nahezu ungelesen. Das ist schade, denn nicht zuletzt bedingt durch die bewegte Vergangenheit des Baskenlands (von den Karlistenkriegen über den Spanischen Bürgerkrieg bis hin zur ETA, um bei der neueren Geschichte zu bleiben) hat das Baskenland eine ungeahnte Fülle an Stoffen, die literarisch verarbeitet werden können. Der 1951 geborene Bernardo Atxaga gehört zu der ersten Generation Autoren, die ausschließlich und bewusst auf Baskisch schreibt. Er ist zugleich der bekannteste baskische Schriftsteller mit Werken, die auf Spanisch, Deutsch, Englisch und Französisch übersetzt wurden. Atxaga ist nicht unumstritten, hat er eine gewisse Affinität zur baskischen Terrororganisation ETA nie vehement bestritten.

Der 2003 veröffentlichte "Der Sohn des Akkordeonspielers" ist zweifelsohne sein stärkster Roman und wurde gekonnt ins Deutsche übertragen (während die deutsche Fassung von "Ein Mann allein" leider nicht lesbar ist). In "Soinujolearen semea", so der Originaltitel, erzählt er die Geschichte Davids, dessen Vater unter Franco auf Seiten der Faschisten gekämpft hatte. David und seine Freunde, die während der Diktatur aufwachsen, besinnen sich auf ihre baskischen Traditionen und radikalisieren sich zusehends. Auch wenn Atxaga die Entwicklung von einem unterdrückten Basken zum Terroristen romantisiert, beschreibt der Roman auf leise und poetische Weise, wie friedlich das Leben im Baskenland mitunter sein kann und wie die äußeren Umstände dieses Idyll zerstören. Sieht man über die zu einseitigen, ideologisch geprägten Beschreibungen unschöner Realitäten hinweg, so ist "Der Sohn des Akkordeonspielers" ein großer Gesellschaftsroman, der als perfekter Einstieg in die Welt der baskischen Literatur dient.

Teju Cole – Open City (2012)

Foto: Copyright: Suhrkamp Verlag GmbH und Co. KG
© Suhrkamp Verlag GmbH und Co. KG

Julius ist ein junger Psychiater, der durch Manhattan läuft. Mit diesem Satz ist der Plot von Teju Coles "Open City" beschrieben und doch beinhaltet der Roman zahlreiche Ebenen, die sich dem Leser unterwegs mit dem Protagonisten sukzessive eröffnen. Denn während sich Julius Manhattan laufend erschießt, wird die Stadt zu einem Palimpsest, derer Vergangenheit er sich erinnert. So ist das Financial District für ihn nicht nur Knotenpunkt des Kapitalismus, sondern zugleich auch das Viertel, indem jahrhundertelang Sklavenhandel betrieben wurde – als Sohn einer Deutschen und eines Nigerianern sind Zugehörigkeit und Diskriminierung die Themen, die ihn im Verlauf des Romans am stärksten beschäftigen. Julius hat fast keine Freunde, seine Interaktionen in dem Roman sind zumeist mit Fremden. Sein einziger Vertrauter ist ein alter Professor, den er hin und wieder aufsucht, um intellektuelle Gespräche mit ihm zu führen. Die Distanz aber wahren beide. Auf der Nachforschung seiner eigenen Wurzeln verschlägt es den jungen Mann schließlich nach Belgien, wo er seine Großmutter suchen möchte. Doch auch hier vertrödelt er seine Zeit mit kurzen Bekanntschaften und dem einsamen Spazieren durch die Straßen. Ob in New York oder Brüssel, Julius wirkt wie ein Fremdkörper, der seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden hat.

"Open City" des amerikanisch-nigerianischen Autors Teju Cole ist ein hochkomplexer Roman, der über das Leben und persönliche Verfehlungen, über Musik, Kunst und Literatur, über persönliche Erinnerungen an Nigeria, die Geschichte der Vereinigten Staaten und die begangenen Gräueltaten sinniert, ohne je anzuklagen, ohne zu resignieren, aber auch ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Trotz der überschaubaren Handlung ist "Open City" großartig – oder vielleicht auch genau deswegen. Denn große Literatur bedarf keiner großen Plots. Was am Ende bleibt, ist die Melancholie.

Übersicht | Nächste Seite

Kommentare