The Suburbs
Bei kaum einer Band sind sich Musik-Fans als auch -Kritiker so einig wie bei Arcade Fire. Das kanadische Kollektiv um das Ehepaar Win Butler und Régine Chassagne schuf mit seinem Debüt "Funeral" wohl DAS Konsensalbum des vergangenen Jahrzehnts und avancierte mit seinem nahezu sakral angehauchten Zweitwerk "Neon Bible" endgültig zu einer der gefragtesten und einflussreichsten Indie-Bands überhaupt. Und das völlig zu Recht, wie sie mit ihrem neuesten Streich "The Suburbs" wieder einmal eindrucksvoll beweisen.
Die acht verschiedenen Albumcover, mit denen "The Suburbs" erhältlich ist, sind gewissermaßen eine Art Sinnbild für die unterschiedlichen Blickwinkel, aus denen das Vorstadtleben auf dem Album betrachtet wird. Dabei wird auf die gängigen Klischees glücklicherweise weitestgehend verzichtet. So wird die Vorstadt keinesfalls als gleichförmig-hässliches Zuhause oberflächlicher und affektierter Spießer dargestellt, wie es sonst oft der Fall ist. Vielmehr verkörpert sie zum einen den Inbegriff von Heimweh sowie den innigen Wunsch, ab und zu einfach mal die Zeit zurückdrehen zu können, gleichzeitig aber auch das befremdliche Gefühl, sich in seiner Heimat alles andere als heimisch zu fühlen.
Musikalisch wie textlich drückt sich das in einer weitläufig von Streichern untermalten melancholischen Grundstimmung sowie lyrisch allgegenwärtiger Nostalgie aus. So werden bereits im ungewohnt beschwingten Opener "The Suburbs" alte Zeiten heraufbeschworen, es wird kindlich-naiven Träumen von damals die harte Realität von heute entgegengesetzt und mit einer regelrecht herzzerreißenden Kinderwunsch-Bekundung ("So can you understand why I want a daughter while I'm still young? I wanna hold her hand and show her some beauty before this damage is done") endgültig deutlich gemacht, dass die scheinbar unbekümmert klimpernden Klavierklänge in Wirklichkeit wohl eher bitteren Sarkasmus widerspiegeln.
In "Ready to Start" sind es dann wieder Gitarre und Bass, die sich in den Vordergrund spielen und den Song durch tolle Tempo-Variationen ganz in Arcade-Fire-Manier erst langsam anschwellen, dann in sich zusammenfallen und schließlich noch ein letztes Mal aufbäumen lassen. Noch mehr Drive bietet neben dem erfrischend untypischen und gehörig in die Glieder gehenden Garagenrocker "Month of May" eigentlich bloß noch das von schwirrenden Streichern eröffnete "Empty Room". Darin darf auch Régine Chassagne endlich mal wieder mit ihrem bemerkenswerten Organ gegen heulende, verzerrte Gitarren ansingen und sollte damit selbst den letzten Kritikern, die Arcade Fire immer wieder für ihren Hang zu übertriebener Theatralik tadelten, ein für alle Mal ihre Skepsis nehmen. Denn auf den Pomp und die orchestrale Wucht ihrer Vorgängeralben ist die Band ganz offensichtlich nicht angewiesen.
Ganz im Gegenteil, gelingt es den Kanadiern im sich schnell einnistenden "Rococo" sogar allein durch zwei simple Silben und eine brillante Phrasierung, den vielleicht fesselndsten Refrain des Jahres zu schaffen und dabei gleichzeitig auf ganz trefflich treffende Art und Weise die coolen Kids von heute zu enttarnen: "They seem wild, but they are so tame". Bei solch herrlich stichelnden Zeilen wie "They will eat right out of your hand, using great big words that they don't understand" kommt man auch nicht umhin, den Song als kleinen ironischen Seitenhieb auf die eigenen Fans aufzufassen. Aber wer solche Ohrwürmer schreibt, dem sei das vergönnt.
Es sind Zeilen wie "Oh, this city's changed so much since I was a little child / Pray to God I won't live to see the death of everything that's wild" aus dem leicht elektronisch angehauchten "Half Light II (No Celebration)" oder auch "We keep erasing all the streets we grew up in" aus der heimlichen Album-Hymne "Suburban War", die trotz treibender Töne immer wieder die Melancholie Überhand gewinnen lassen. Und so weichen spätestens mit dem desolat-desillusionierten, aber dennoch (oder deshalb?) ganz bezaubernden "Sprawl (Flatland)" alle Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit schließlich der bitteren Erkenntnis, dass sich mit dem radikal transformierenden Stadtbild auch zusehends die Mentalität der Menschen verändert hat, so dass man die mit der schnelllebigen Großstadt einhergehende Sehnsucht nach vorstädtischer Geborgenheit und jugendlicher Unbefangenheit resigniert aufgeben und sich mit der Einsamkeit abfinden muss. "It was the loneliest day of my life" ist in dem Zusammenhang wohl die mit Abstand traurigste Zeile des ohnehin nicht gerade vor Heiterkeit sprühenden Albums.
Wie gut, dass das eigenwillige "Sprawl II (Mountains Beyond Mountains)" mit seinem 80er-Jahre-Synthie-Charme sowie der viel zu kurze, absolut hinreißende Album-Closer "The Suburbs (continued)" zum Schluss noch gehörig aufzumuntern wissen. Wäre ja schließlich auch äußerst unschön, wenn Arcade Fire auf ihrem dritten Album plötzlich mit der Tradition brechen würden, dem Hörer mit dem letzten Song noch ein großes, breites, glückliches Grinsen ins Gesicht zu zaubern.
Fazit
Auf ihrem dritten (Meister-)Werk "The Suburbs" schrauben Arcade Fire ihre bislang zum Teil nahezu bombastisch wirkenden Arrangements deutlich zurück und überlassen das Feld dem für sie so typischen Gitarrensound sowie subtilen Streichern, die die nostalgisch-melancholische Atmosphäre unterstreichen. Die reduzierte orchestrale Opulenz kompensieren sie durch eine deutlich höhere Albumlaufzeit, was den ein oder anderen (guten!) Song im Vergleich leider etwas untergehen lässt. Dennoch kann man Win Butler nur beipflichten, wenn er am Ende so sanft ins Mikro singt: "If I could have it back / All the time that we wasted / I'd only waste it again / If I could have it back / You know I would love to waste it again / Waste it again and again and again". Denn schöner war Zeitverschwendung schon lange nicht mehr.
Anspieltipps
Ready to Start
Rococo
Empty Room
Suburban War
The Suburbs (continued)
Artistpage
Tracks
1. | The Suburbs | |||
2. | Ready to Start | |||
3. | Modern Man | |||
4. | Rococo | |||
5. | Empty Room | |||
6. | City With No Children | |||
7. | Half Light I | |||
8. | Half Light II (No Celebration) | |||
9. | Suburban War | |||
10. | Month of May | |||
11. | Wasted Hours | |||
12. | Deep Blue | |||
13. | We Used to Wait | |||
14. | Sprawl (Flatland) | |||
15. | Sprawl II (Mountains Beyond Mountains) | |||
16. | The Suburbs (continued) |
Paulina Banaszek - myFanbase
02.10.2010
Diskussion zu dieser CD
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (DE): 30.07.2010Genre: Rock, Pop, Independent, Alternativ
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