Conchita
Vorstellen braucht man diese Lady nicht mehr. Als Gewinnerin des letztjährigen Eurovision Song Contest, siebthäufigster Google-Suchbegriff 2014 und markanter Diskussionsbeitrag dürfte Conchita Wurst nicht nur im deutschsprachigen Raum jedem ein Begriff sein. Selbst konservative Mitbürger können nicht leugnen, dass sie etwas bewegt hat. Und kaum einer konnte den Ohrwurmcharakter ihrer Gewinnerhymne leugnen. "Rise Like A Phoenix" war perfekt für ihre Erscheinung und ihre Stimme, hatte einen einvernehmenden Aufbau und stellte sich auf Augenhöhe neben andere Powerballaden und Bond-Themen.
Jemand, der zuvor nur zwei eher einfach produzierte Singles in den Charts des Heimatlandes hatte, steht trotz bzw. sogar wegen aller Berühmtheit nach dem Gesangswettbewerb vor der nächsten Herausforderung. Und so war es spannend zu sehen, ob wie bei Castingshow-Siegern im Schnellschussverfahren ein Album zusammengestellt wird oder nicht. Und wie würde es aussehen und klingen? Voll von theatralischen Hymnen? Drohte der dramatische Overkill? Würde man mehr als ESC- und CSD-Fans bedienen können? Und welche Musikstile passen überhaupt zu einer Männerstimme in Frauenkleidern?
Ein halbes Jahr nach ihrem europäischen Triumph gab Conchita die Möglichkeit zur Beantwortung der Fragen, indem sie ihre nächste Single veröffentlichte. Mit "Heroes" bewegte sie sich weg von dem opernhaften Stil von "Rise Like A Phoenix" und "That's What I Am", ihrem Titel, mit dem sie ein Jahr zuvor ganz knapp die ESC-Teilnahme verpasste. Ebenfalls eine Ballade, liegt "Heroes" natürlich auch etwas Dramatik inne, doch erinnert die Synthie-Instrumentation an so manches, das Ryan Tedders Name trägt. Die detaillierten Background Shouts und der erhebend dargebotene Melodienwechsel im letzten Drittel machen den Song zum Beweis, dass Conchita zeitgenössisch klingen kann. Als zweite Single war die Midtempo-Nummer also clever gewählt und nahm die Befürchtungen, sie mache nur auf Shirley Bassey.
Weitere vier Monate später erschien dann die dritte Single, die das tat, was nur logisch war, nämlich ihren bekannten "We are unstoppable"-Ausruf für einen Song aufgriff. Ebenso klug ist auch das Arrangement von "You Are Unstoppable" gewählt: Es beginnen Streicher, Conchita singt ungewohnt zurückgenommen, während sich der Chorus dann empor wirbelt: Glamouröse Opulenz verbindet sich hier gekonnt mit noch deutlicher als in "Heroes" eingesetzten Electro-Beats. Der volle Sound lässt erneut Tedder bzw. seine OneRepublic ("Native") in den Sinn kommen, die auch gerne Pop mit stadion-reifem Hymnencharakter bringen.
Single Nr. 4 erschien zeitgleich mit dem Langspieler und wurde in der Abstimmungspause des diesjährigen Contest vorgestellt. "Firestorm" ist flott, ist tanzbar und somit das, was einem neben Balladen als zweites mögliches Musikgenre der Drag Queen sofort einfiel. Anders als Cher, die im Grunde auch nur zwischen Balladen und Dance hin- und herpendelt, ist Conchita aber 2015 mehr up to date. Astreine House-Beats, Staccato-Klavier à la 90er-Eurodance und gescratchte Stimmverzerrungen – Refrain und Bridge machen richtig Spaß und sollten Jess Glynne und Kiesza sich fürchten lassen, die Strophen schwächen die Nummer leider etwas.
Warum man anstatt dieses Stampfers an die zweite Stelle der Platte "Up For Air" setzte, ist bei allen bisher sehr cleveren Marketing-Entscheidungen nicht zu verstehen. Auch der Drum'n'Bass-Anstrich helfem dem Track nicht über den Durchschnitt hinaus und machen ihn nach "Somebody To Love" zum belanglosesten Beitrag der Scheibe.
"Put That Fire Out" versucht mehr und schafft es zumindest teilweise: Die Strophen der heroischen Hymne vermitteln eine tolle Atmosphäre, die die Gröhl-Chöre des Refrains aber nicht halten können. Sie scheinen nicht das rechte Timing und Gefühl zu haben, wirken zu gewollt und lassen das Songpotential kippen. Mit weiteren "Oh oh"-Chören ist "Colours Of Your Love" danach schlecht platziert, aber nicht schlecht gemacht. Von einer Klavier-Ballade über eine kleine "Heroes"-Anleihe entwickelt die Nummer sich zu einem ungewöhnlichen DJ-Clubhit. Die Kombination von dumpfem Schlagzeug, türkischem Zupfinstrument und Stimmverzerrern mag mancher irritierend finden, mancher erfrischend und cool. Nachdem "Firestorm" sich an Katy Perrys nicht genug beachteten "Walking On Air" orientierte, bringt "Colours Of Your Love" "Dark Horse" der US-Sängerin ("Prism") in Erinnerung.
Das folgende "Out Of Body Experience" hat ebenfalls einen orientalischen Anstrich, doch ist es nicht dieser, sondern sein Mittelteil mit tollen mehrstimmigen Passagen und einem bestechenden Gesangstempo, der es vor der Vergessenheit rettet. Mehr Eindruck macht "Where Have All The Good Men Gone", das den Hörer Conchitas Freude beim Einsingen förmlich spüren lässt. Trotz Motown-Beat klingt es mehr nach Swing als nach Winehouse – ein zweiter Verweis Richtung Bond und Bassey schadet ja auch nicht.
Umrahmt vom "Phoenix" schließt die Wurst ihr Solodebüt mit zwei schönen Balladen, die ihre allgegenwärtige Botschaft von Toleranz und Freiheit in einen scheinbar persönlicheren Kontext packen. Hier können Conchita und Tom nochmal zeigen, was sie stimmlich drauf haben: Auch wenn sie mit ganz großen Diven wie Dion und Aguilera nicht mithalten können (aber wer kann das schon?), so bergen alle zwölf Titel doch mehr als achtsame Leistungen und herausragende Momente.
Fazit
Kennenlernen sollte man "Conchita" - und das nicht nur, wenn man Fan von ihr oder dem ESC-Event ist. Und auch nicht nur Fans von Cher, Leona Lewis und Katy Perry könnten die Platte mögen. So ganz zu vergleichen ist die bärtige Lady nämlich einfach nicht; musikalisch ist sie eigenständig und stimmlich überraschend facettenreich. Sie hat sich viel Mühe gegeben, Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig mit modernen Sounds zu spielen. Dabei wurde trotz zwölfmonatiger Arbeitszeit zwar nicht alles perfekt eingespielt, doch finden sich auf der Platte die spannendsten Ansätze und Einfälle, die man seit langem auf einem Popalbum aus deutschsprachigem Gebiet finden konnte.
Anspieltipps
You Are Unstoppable
Colours Of Your Love
Where Have All The Good Men Gone
Firestorm
Heroes
Rise Like A Phoenix
Artistpage
Tracks
1. | You Are Unstoppable | |||
2. | Up For Air | |||
3. | Put That Fire Out | |||
4. | Colours of Your Love | |||
5. | Out of Body Experience | |||
6. | Where Have All the Good Men Gone | |||
7. | Somebody to Love | |||
8. | Firestorm | |||
9. | Pure | |||
10. | Heroes | |||
11. | Rise Like a Phoenix | |||
12. | Other Side of Me |
Micha S. - myFanbase
27.05.2015
Diskussion zu dieser CD
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (DE): 15.05.2015Genre: Pop, Dance-Pop, Dance
Jetzt bestellen
Album jetzt bei Amazon.de
bestellen
Aktuelle Kommentare
23.11.2024 12:44 von Lena
Cruel Intentions: Cruel Intentions
Ich habe es mir für kommende Woche vorgenommen. War von... mehr
20.11.2024 15:18 von Catherine
Liebeskolumnen: Rory & Dean, Teil 3
Ich glaube, es wurde während des "Gilmore... mehr