Die verstörendsten Momente 2011/2012
#3.10 Guy Walks Into a Bar (Justified)

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Robert Quarles ist ein Mann der Dixie Mafia. Als rechte Hand des Bosses Theo Tonin wirkte der eiskalte Anzugträger vornehmlich in Detroit, weit, weit entfernt vom ländlichen Harlan, Kentucky. Nun kommt er in die Stadt, wittert ein lukratives Geschäft und meint, ein routinierter Krimineller und schlauer Fuchs wie er könne unter den Cowboys von Harlan so richtig aufräumen und ihnen zeigen, wie der Hase läuft. Er plant illegalen Medikamentenhandel im großen Stil, wird dabei aber von den "Hinterwäldlern" Kentuckys nach allen Regeln der Kunst vorgeführt und besiegelt seinen ultimativen Fall am Ende selbst.

"I was fourteen years old and I remember how it felt to suddenly be free."

Foto: Neal McDonough, Justified - Copyright: Prashant Gupta/FX
Neal McDonough, Justified
© Prashant Gupta/FX

Zu Anfang ist von einer Schwäche Robert Quarles' noch nicht viel zu merken. Er wird als aalglatt geschniegelter Geschäftsmann ohne Skrupel und mit hoher krimineller Energie eingeführt. Unliebsame Untergebene und ungemütliche Zeugen beseitigt er zur Vorspeise mit glatten, tödlichen Schüssen aus seiner im Ärmel versteckten Handfeuerwaffe, plant sein Unternehmen zur Hauptspeise genüsslich mit anderen Untergebenen und quält zur Nachspeise einen jungen Prostituierten, den er sich als Gefangenen im Hinterzimmer hält. Die guten Manieren, die er nach außen zeigt, und die légèren, väterlichen Telefonate mit seinem kleinen Sohn wirken nur umso widerlicher, je mehr die Zeichnung dieses verabscheuungswürdigen Charakters Gestalt annimmt.

Neal McDonoughs weißblonde Haare und hellblaue Augen tragen zur eiskalten Ausstrahlung der Figur bei, verleihen ihm aber in Kombination mit den rosigen Wangen und der oftmals überraschend charmant-witzigen Mimik hin und wieder eine groteske Ähnlichkeit zu einem Baby aus der TV-Werbung. Kurz gesagt, der Mann jagt einem einen Schauer über den Rücken und man fragt sich, ob man es liebt, ihn zu hassen, oder es doch eher hasst, ihn zu lieben. Jedenfalls wünscht man sich, dass die Entwicklung dieser gleichzeitig abstoßenden wie fesselnden Figur konsistent bleibt und man nicht plötzlich eine Hintergrundgeschichte serviert bekommt, so geschehen zum Beispiel bei Gretchen Morgan in "Prison Break", die einen ihr brutales Handeln verstehen lassen soll.

Aber die Hintergrundgeschichte kommt. Sie kommt in #3.10 Guy Walks Into a Bar verpackt in einen Monolog, den Quarles ausgelöst durch den jungen, verzweifelten Stricher Donovan (Marshall Allman in seiner Paraderolle des geprügelten Hundes, wie schon in "Prison Break" und "True Blood") vor dessen und Wynn Duffys Augen hält; und diese Szene gehört wohl zu den besten, wenn auch verstörendsten der gesamten Serie, denn Quarles' Lebensumstände in jungen Jahren hätten grausamer wohl kaum sein können und dennoch entschuldigen sie gar nichts. Neal McDonoughs Vortrag und die gesamte Ausführung der Szene lassen keinen Zweifel daran, dass der Zuschauer hier nicht im Geringsten dazu gebracht werden soll, urplötzlich Verständnis für diesen Charakter zu haben, geschweige denn Mitleid zu empfinden.

Robert Quarles ist an einem Punkt, an dem ihm alles aus den Fingern gleitet und er sich mit Tabletten zudröhnt, um sich davon abzulenken. Er sitzt mit Wynn Duffy, der längst plant, Quarles zu übervorteilen, in dessen Trailer, als der aufgewühlte Donovan mit einer Pistole in der Hand einbricht und Quarles bedroht, weil dieser seinen Freund Brady ermordet hat. Der hochrote Quarles wird ganz ruhig, steht langsam auf und bewegt sich in aller Ruhe auf Donovan und die auf ihn gerichtete Waffe zu. Dabei erzählt er, dass er selber als Kind von seinem heroinsüchtigen Vater zur Prostitution gezwungen worden sei, bis er an Theo Tonin geriet, der ihm als 14-Jährigem zum ersten Mal eine Wahl ließ - seinen Vater selber zu erschießen oder es von jemand anderem machen zu lassen. Quarles legt mit wachsender Eindringlichkeit dar, dass es für ihn keine Wahl war, er erschoss seinen Vater und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben frei. Als er Brady kennenlernte, habe er ihn sofort verstanden und auch ihm geholfen, frei zu sein. Quarles bekommt beim Sprechen selber feuchte Augen, seine Stimme zittert und er presst, ganz dicht vor Donovan angekommen, seine Stirn gegen den Lauf von Donovans Waffe. Dann nimmt er den verstörten jungen Mann in seine Arme, drückt ihn an sich und beide beginnen zu weinen. Im Hintergrund sieht man diverse Male das Minenspiel des entsetzten und sich immer stärker unwohl fühlenden Wynn Duffy, das wohl am allerbesten die Gefühle des Zuschauers widerspiegelt.

Hier wird kein Mitleid für Robert Quarles erzeugt. Er hatte eine Wahl und er entschied sich für die Täterrolle. Der erschütterte Donovan, der eigentlich hartgesottene, hier aber seltsam berührte Wynn Duffy und der gleichzeitig eiskalte und aufgewühlte Quarles, der mit dieser sanften, beruhigenden Art von den unvorstellbarsten Grausamkeiten spricht, während sowohl der Zuschauer als auch Wynn Duffy wissen, welches Schicksal Donovan trotz des überraschenden Ausbruchs von Emotionalität blüht - all dies macht diese Szene zu einem der einschneidenden Momente der TV-Season 2011/2012, die einen noch lange nach dem Schauen nicht loslassen.

Nicole Oebel - myFanbase

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