My Mad Fat Diary - Review des Piloten

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"Just be normal" – das ist das Credo der 16-jährigen Rae Earl, als sie nach einem viermonatigen Aufenthalt aus der Psychiatrie entlassen wird. Aber wie verhält man sich normal? Und was ist überhaupt normal im Alltag eines Teenagers, dessen Hormone, Gedanken und Gefühle ständig außer Kontrolle geraten? Die Pilotfolge von "My Mad Fat Diary" dreht sich um Raes erste Woche in Freiheit, wie sie es selbst nennt – und um die erste Sitzung mit ihrem neuen Therapeuten Kester am Ende dieser Woche. Doch es ist nicht Kester, sondern ihr Tagebuch, dem Rae alles anvertraut, was in diesen Tagen passiert.

"If anyone ever finds this diary and reads it and comes to the conclusion I'm crazy - they'd be spot on."

Und es passiert einiges, womit Rae klar kommen muss: Auf einen Schlag ist sie, die immer der Meinung war, dass in Lincolnshire keine coolen Leute leben, inmitten der selbstbewussten Clique von ihrer besten Freundin Chloe und deren Freunde Izzie, Chop, Finn und Archie - und wünscht sich nichts sehnlicher, als ein Teil dieser Gruppe zu werden. Plötzlich lebt der tunesische Liebhaber ihrer Mutter im Haus und Rae muss tagsüber Geturtel und nachts Sexgeräusche ertragen, während sie selbst sich zwar auf den ersten Blick in Archie verliebt hat, aber keine Chance sieht, dass der gut aussehende Musiker sich sexuell für sie interessieren könnte. Vor allem nicht, wenn ihre direkte Konkurrenz in der Clique die attraktive Chloe ist und Rae dann auch noch zu einer Poolparty mit ihren neuen Freunden kommen soll – ein absoluter Alptraum für das übergewichtige Mädchen. Der ganz normale Wahnsinn eines Teenagerlebens überfordert Rae, die sich in dem Mikrokosmos der Psychiatrie gut eingefunden und in den vier Monaten ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hatte.

Doch davon ist spätestens dann nichts mehr übrig, als sie beim Bikini-Kauf für die Poolparty durch unglückliche Umstände plötzlich halbnackt in der Fußgängerzone steht und den neugierigen, schadenfrohen, mitleidigen Blicken der Menschen ausgesetzt ist. Das ist zu viel für die fragile Seele in diesem imposanten Körper und Rae passiert genau das, was sie beim Auszug aus der Psychiatrie befürchtet hat: Sie fällt in alte Verhaltensmuster zurück, plündert den gut gefüllten Süßigkeitenschrank ihrer Mutter und frisst, schlingt, stopft ihren Schmerz in sich hinein. In ihrer darauffolgenden Panik will Rae wieder in die vermeintliche Sicherheit der Psychiatrie zurück – bis sie dort von ihrer Freundin Tix mit der harten Wahrheit konfrontiert wird, dass sie sich erst dann irgendwo sicher fühlen wird, wenn sie sich in ihrer eigenen Haut wohl fühlt. Also wagt sich Rae wieder in die Welt "da draußen" und stellt sich ihren Ängsten, ihrer Unsicherheit und ihrem Leben.

Das Bemerkenswerteste an dieser Pilotfolge ist ohne Zweifel die Tatsache, wie viele Facetten der Protagonistin Rae bereits in diesen ersten 46 Minuten gezeigt werden. Sie ist schlagfertig, mürrisch, enthusiastisch, verschlossen, liebenswert, verzweifelt, lebenshungrig – und als Zuschauer begleitet man sie auf einer wahren Achterbahnfahrt der Gefühle: von der Hoffnung, Freunde gefunden zu haben, über die Wut gegenüber ihrer Mutter und die nackte Angst wegen ihres Fress-Rückfalls bis zur vorsichtigen Zuversicht, ihr Leben irgendwie zu meistern. Durch die Einträge in ihr Tagebuch, die die Episode in Form von Raes Voice Over und originellen Illustrationen kommentieren, bekommt man einen wunderbaren Einblick in ihre Gedankenwelt. Während Rae ihrem Therapeuten, ihrer Mutter und ihren Freunden vieles vorenthält, öffnet sie sich ihrem Tagebuch und damit dem Zuschauer gegenüber komplett. Dadurch entwickelt man bereits in dieser ersten Folge ein tiefes Verständnis für die Protagonistin, das den Schlüssel für den Rest der Serie darstellt, da die Geschichte konsequent aus Raes Perspektive erzählt wird. Und doch bleiben auch bei ihr noch offene Fragen für die kommenden Folgen, da man am Ende des Piloten noch nicht genau weiß, was genau der Auslöser für Raes Aufenthalt in der Psychiatrie war.

Während Raes Charakter bereits ein wahres Kaleidoskop ist, bleibt das übrige Figurengefüge in dieser Folge noch relativ grob umrissen – aber im positiven Sinn! Wenn alle Charaktere so ausführlich dargestellt wären wie Rae, würde nach dem Auftakt der Serie kaum noch Spannung vorhanden sein, um die weiteren fünf Folgen zu füllen. Doch stattdessen wird man neugierig und will wissen, wie es dazu kam, dass Rae und ihre angeblich beste Freundin Chloe sich auseinander entwickelt haben. Man möchte mehr von Raes Mutter sehen, deren unmögliches Verhalten teils amüsiert und teils fassungslos macht. Man ist gespannt , ob Kester es schafft, dass Rae ihm tatsächlich vertraut und sich ihm öffnet. Und man will gemeinsam mit Rae den Rest der Clique noch besser kennen lernen, deren Vorstellung im Diner filmisch sehr schön umgesetzt wurde.

Überhaupt zeichnet sich die Folge durch ihren intelligenten, klaren Aufbau und ihre kreative Machart aus, die sich nicht nur auf die Visualisierung der Tagebucheinträge beschränkt. Zwei Szenen bleiben dabei besonders im Gedächtnis: Zum einen die unglaublich intensive Inszenierung von Raes Fressanfall nach ihrer öffentlichen Demütigung beim Bikini-Kauf mit der fast schon überirdischen Darstellung des Süßigkeitenschranks und der anschließenden beklemmenden und schonungslosen Beobachtung von Rae, die wahllos Süßigkeiten in sich hineinstopft. Und zum anderen der zweite Tiefpunkt auf Raes Peinlichkeitsskala, als sie bei Chloes Poolparty in der Rutsche stecken bleibt und die Geschichte durch den harten Schnitt zur Therapiesitzung unterbrochen wird, in der Kester es schafft, Rae Mut zuzusprechen und diese optimistische Stimmung anschließend in der Fortsetzung der Poolszene und dem positiven Ausgang von Raes Situation gespiegelt wird.

Von den Schauspielern sticht natürlich die Hauptdarstellerin Sharon Rooney hervor, die die Serie trotz ihrer Unerfahrenheit im TV-Geschäft hervorragend tragen kann. Sie überzeugt nicht nur mit der Darstellung der fragilen, verletzlichen Rae, sondern auch als "tough cookie", wie Kester sie bezeichnet. Ian Hart, bekannt als Professor Quirrell aus den "Harry Potter"-Filmen, gibt den unkonventionellen, charismatischen Therapeuten und bereits in den zwei Szenen der Pilotfolge ist die Dynamik zwischen Rooney und Hart vielversprechend. Ebenso erfrischend ist die Interaktion zwischen Rooney und Filmmutter Claire Rushbrook, die das komplexe Mutter-Tochter-Verhältnis mit viel emotionalem Ballast aufladen, aber auch ein tolles Timing für Situationskomik zeigen.

Fazit

Bereits in diesem Auftakt meistert "My Mad Fat Diary" die Gratwanderung zwischen urkomischen und tiefernsten Szenen und nähert sich der Thematik von Jugendlichen mit psychischen Problemen sehr differenziert. Die Folge ist unterhaltsam und berührend und mit der Protagonistin Rae wird sofort eine Identifikationsfigur geschaffen, die einen mühelosen Zugang in die Geschichte gewährt. Das macht Lust auf mehr und die Grundbausteine der Serie, die hier angelegt werden, wecken die Neugierde auf die kommenden Folgen.

Lena Stadelmann - myFanbase

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