The Wire - Review
Im Schatten der großen HBO Flaggschiffe "Die Sopranos" und "Sex and the City", die beide in den USA außerordentlich gut liefen und entweder einen Award nach dem anderen nach Hause brachten ("The Sopranos"), oder sich zumindest international hervorragend verkaufen ließen ("Sex and the City"), entwickelte sich mit "The Wire" eine Serie, die beides nicht liefern konnte. Es gab gerade einmal zwei Nominierungen für einen Emmy, bei den Golden Globes wurde man gänzlich ignoriert. International hat sich die Serie bisher größtenteils nur an hiesige Pay-TV Sender verkaufen lassen, wodurch der Bekanntheitsgrad auch heute noch relativ gering ist.
Zugegeben, der Einstieg in eine Serie mit gut 40 Hauptcharakteren am Ende ist nicht sonderlich einfach. Man braucht zunächst eine halbe Staffel, um sich zurecht zu finden und die einzelnen Charaktere kennen zu lernen. Einige werden bis dahin verzweifeln und sich zudem wünschen, dass der Polizist dem Gangster doch endlich mal vor das Schienbein tritt und man seine Schwarz-Weiß-Malerei bekommt, die man von anderen Serien des Genres gewohnt ist. Wenn man aber am Ball bleibt, wird man dafür in vielfacher Hinsicht belohnt. Man bekommt nicht nur den wohl realistischsten Blick in eine Großstadt in den USA, den man sich wünschen kann, mit all ihren komplexen Verwicklungen und Rückkopplungen. Man lernt zudem echte Charaktere kennen, die allesamt genauso auf den Straßen Baltimores umherlaufen oder zumindest umherlaufen könnten, da David Simon sie alle auf realen Vorbildern aufbaut, die er während seiner Tätigkeit als Polizeireporter kennengelernt hat.
You can't even call this a war. […] Wars end.
Aber das, was man "The Wire" nicht hoch genug anrechnen kann, ist etwas anderes. Bisher wäre es ja "nur" eine gute bis großartige Serie, aber nicht die beste, die je im Fernsehen lief. Was "The Wire" auszeichnet, ist der Anspruch, innerhalb einer TV-Serie zu zeigen, dass a) etwas fundamental falsch laufen muss, wenn die am besten entwickelte Gesellschaft der Welt derart viel menschlichen Ausschuss produziert und vor allem b) warum es nahezu unmöglich ist, daran etwas zu ändern. Deswegen kann der "War on drugs", das beherrschende Thema der ersten Staffel, in seiner momentanen Form beispielsweise gar nicht funktionieren. Das zeigt die Polizeieinheit, die nicht die Mittel und Möglichkeiten hat, diesem "Krieg" gebührend nachzugehen, das zeigt der Drogendealer, der ein einfacheres Leben hat, wenn er so weiter macht wie bisher als dass er sich einen vermeintlich ehrlichen Beruf sucht. Und das zeigt der Junkie, der immer wieder versucht, von der Droge wegzukommen, der aber so viele Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommt, dass er keine andere Möglichkeit sieht als zumindest für ein paar Stunden seine Sorgen zu vergessen, indem er sich zudröhnt.
I can't keep waking up in the morning not knowing if I'm gonna get paid.
Deswegen bricht auch allmählich die amerikanische Mittelschicht weg, was anhand des allmählichen Verschwindens von Gewerkschaften in der zweiten Staffel thematisiert wird. Allgemein war der Sprung von den Straßen Baltimores an den Hafen für eine Serie höchst ungewöhnlich, da dadurch nicht nur das Setting selbst geändert wurde, sondern man auch mal so eben mit einem Satz von neuen Charakteren zu tun bekommt, während man vielleicht lieber erst einmal die Dealer und Junkies aus der ersten Staffel weiter kennengelernt hätte. Aber genau hier unterscheidet sich "The Wire" von anderen Serien. Es geht nicht um einzelne Figuren, sondern um das große Ganze. Dennoch schafft man es immer wieder, derart glaubwürdige und realistische Charaktere zu schaffen, die mit ihrem Schicksal hadern. In der zweiten Staffel geschieht das vor allem am Beispiel des polnisch-amerikanischen geschäftsführenden Kassierers der hiesigen Hafenarbeiter, Frank Sobotka. Er ist eben nicht nur gut, sondern geht Geschäfte mit der griechischen Drogenmafia ein, ist aber gleichzeitig auch nicht von Grund auf böse, da gezeigt wird, weswegen er aufgrund der Umstände teilweise richtiggehend dazu gezwungen wird. Wie in den großen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides hadern die Individuen mit ihrem Schicksal und den Göttern.
Something is wrong in this city and I think I can fix it.
Die dritte Staffel erweitert das Universum von "The Wire" noch weiter und konzentriert sich auf die politische Bühne, die dafür sorgt, dass der im Grunde nicht akzeptable Status Quo dennoch weiterhin bestehen bleibt. Dies wird gezeigt am Beispiel des aufstrebenden Bürgermeisterkandidaten Thomas Carcetti. Auch hier hätten es sich die Autoren und Produzenten der Serie einfach machen können und ihn einfach als inkompetenten Lobbyisten in einem verfilzten Apparat zeigen können, aber eben genau das tat man nicht. Carcetti ist durchaus gewillt, etwas an der momentanen Situation zu ändern, muss aber schnell feststellen, dass er manche Dinge einfach nicht verbessern kann und auf der anderen Seite vermeintlich gute politische Entscheidungen ebenso gravierend schlechte Auswirkungen auf manche Teile der Bevölkerung haben können. Hierbei wird das Geschehen innerhalb des Rathauses ebenso nahtlos mit den politischen Ambitionen des einen oder anderen Polizisten der Einheit verknüpft, die man seit der ersten Staffel kennt, wie auch mit den Gangstern, die ihr Geschäft auf legale und wirtschaftlich gesunde Beine bringen wollen. Kein Handlungsfaden aus der Vergangenheit geht aufgrund des erneuten Wechsels des Settings verloren.
I love the first day, man. Everybody all friendly an' shit.
Aber die Staffel, die "The Wire" vollends in die Annalen eingehen ließ, ist zweifellos die vierte. Nie gab es eine Serienstaffel im Fernsehen seit Erfassung und Auswertung von Kritiken, die auch nur annähernd so gut bewertet wurde wie diese. Und das völlig zu Recht. Auch hier werden dem Zuschauer in Form von vier Jugendlichen, die die achte Schulklasse beginnen, neue Augen und Ohren gegeben, durch die man zu verstehen beginnt, woher die Drogendealer, Junkies und Mörder, die die Straßen Baltimores bevölkern, eigentlich kommen. Bezeichnend hierbei eine Unterhaltung in einem Klassenzimmer zwischen Lehrerin und Klasse, die mit der altbekannten Frage "Where do you see yourself in ten years?" beginnt. Nach einer Pause, in der die Schüler schreiben können, wie sie sich sehen, fragt die Lehrerin folgendes:
"So how many wrote down 'Dead'?"
Und nicht gerade wenige Schüler heben die Hand. Die lakonische Antwort eines Schülers:
"Shit, you saw that comin', huh?"
Was für Gelächter in der Klasse sorgt, zeigt gleichfalls die Perspektivlosigkeit, mit der diese Schüler zu kämpfen haben. Diese wird anhand der vier Schüler, die man als Zuschauer begleitet, bravourös gezeigt. Vom einen wird von seiner eigenen Mutter erwartet, dass er die gleiche Drogenkarriere wie sein inhaftierter Vater verfolgt, dem anderen, der seinen kleinen Bruder versorgen muss, erscheint die Möglichkeit auf schnelles Geld attraktiver als das stundenlange Herumsitzen in der Schule usw. Auch hier werden die vier Jungs keineswegs als zu dumm dargestellt, einfach (!) "gute" und "richtige" Entscheidungen zu treffen. Sie versuchen allesamt, aus diesem Sumpf herauszukommen, werden aber von ihrem Umfeld immer wieder reingezogen, egal was sie dagegen gedenken zu tun. Die allmähliche Entwicklung der vier in das, was man bei den Sozialwohnungen Baltimores auf der Straße sieht, zeichnet sich schnell ab und ist vor allem deswegen so unglaublich herzzerreißend und tragisch. Die vier jungen Schauspieler tragen ihren Teil dazu bei (einer davon ist übrigens Tristan Wilds, der sein Talent nun bei der Teeniesoap "90210" vergeudet), die für ihr Alter ein unglaubliches Arsenal an Emotionen darbieten. Übrigens nicht, dass es unmöglich wäre, aus dem Ganzen herauszukommen, auch das wird natürlich in "The Wire" thematisiert. Nein, es ist nur wahnsinnig schwer und die Mehrzahl derjenigen, die es versuchen, scheitert auf dem langen und steinigen Weg.
The bigger the lie, the more they believe.
Nicht nur, dass allein die Tatsache, dass die bisher beschriebenen Dinge heutzutage geschehen, schlimm genug wäre. Nein, sie wird von der Öffentlichkeit auch in vielen Teilen gar nicht wahrgenommen, was auch an zunehmend unseriösen und unwichtigen Nachrichten von den Massenmedien liegt, die ihrem Auftrag, zu informieren und nicht nur zu unterhalten, größtenteils überhaupt nicht mehr nachkommen. Daher war es ein ganz besonderes Anliegen des ehemaligen Polizeireporters David Simon, diesen Umstand in seiner Serie entsprechend zu berücksichtigen und er nimmt sich dafür auch noch seinen ehemaligen Arbeitsplatz, die Tageszeitung "The Baltimore Sun" vor. Wieso wird jene Nachricht dieser vorgezogen? Weswegen landet teils inhaltsloser Müll auf der Titelseite und wichtige Reportagen werden auf wenige Zeilen eingedampft und neben Rezepte verbannt? Woher kommt die Tendenz, zunehmend Nachrichten auszuschmücken oder gar ganz auszudenken? All das beantwortet die fünfte Staffel, die in der Redaktion der Zeitung spielt und unser Auge für die Vorgänge schärft, die tagtäglich dort ablaufen. Auch hier wird man mit zahlreichen neuen Charakteren konfrontiert, die allesamt mit ihrem Schicksal hadern, angefangen von der ambitionierten Anfängerin über den routinierten Redakteur mit Idealen, dem die aktuelle Entwicklung vollkommen zuwider ist, bis zu dem Journalist, der für eine Auszeichnung nahezu alles tun würde. Das Verhalten all dieser Figuren ist nachvollziehbar, mehrdimensional und echt. Und während dieser Teil der Story erzählt wird, wird gleichzeitig eines der besten Serienenden der Fernsehgeschichte vorbereitet, in dem ein Großteil der seit vielen Jahren gesponnenen Fäden zusammenlaufen, so dass man am Ende Baltimore mit all seinen Bewohnern als lebendes Wesen und den eigentlichen, den einzigen Hauptcharakter wahrnimmt.
Fazit
"The Wire" ist nicht weniger als die beste Serie, die je im Fernsehen gezeigt wurde. Das beweisen nicht nur die unzähligen nationalen und internationalen Stimmen, das erfährt man auch am eigenen Leibe, wenn man sich diese Serie ansieht. Nie war etwas, das man im TV gesehen hat, realistischer und komplexer, nie wurden Menschen mehrdimensionaler und echter dargestellt, nie war das sich daraus entwickelte Bild vielseitiger und ambitionierter. Allein ein kurzer Blick auf eine Situation oder einen Charakter entwickelt so mit der Zeit eine unvorstellbare Vielzahl von Kettenreaktionen im Kopf. Dadurch erhebt sich die Story auf ein Niveau, über das man zahlreiche Doktorarbeiten verfassen und trotzdem nur an der Oberfläche kratzen könnte.
"'The Wire' has never won an Emmy? 'The Wire' deserves the Nobel Prize for Literature."
(Joe Klein, Politkolumnist des weltweit angesehen "Time Magazine")
Andreas K. - myFanbase
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