Bewertung
Semih Kaplanoğlu

Bal - Honig

"Gehst du dann mit den Bienen näher zu den Bienenstöcken?" - "Ja, genau." - "Weißt du auch schon, wann du wieder nach Hause kommst?"

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Inhalt

Der sechsjährige Yusuf (Bora Altaş) wächst in bescheidenen Verhältnissen bei seinem Vater Yakup (Erdal Beşikçioğlu), einem Imker, und seiner Mutter Zehra (Tülin Özen), einer Arbeiterin auf einem Teefeld, in der anatolischen Provinz auf. Als die Bienen die Gegend verlassen, sieht sich Yakup gezwungen, in entlegeneren Regionen nach Bienen zu suchen und verschwindet schließlich spurlos. Der schüchterne Yusuf, der mit seinem Vater eine sehr innige und schweigsame Beziehung pflegte, stellt daraufhin das Reden ganz ein.

Kritik

Zwei Milliarden Euro. Das ist der volkswirtschaftliche Wert, auf den die Pflanzenbestäubung von Bienen allein in Deutschland beziffert wird. Vor einigen Jahren wird diese Summe noch sehr viel höher anzusiedeln gewesen sein, ist doch seit den vergangenen Jahrzehnten ein steter Rückgang der Bienenvölker zu beobachten – weltweit, nicht nur in Deutschland, - der in dieser Form bis heute nicht vollständig zu erklären ist. Aufbauend auf dieser relativ simplen Tatsache hat Semih Kaplanoğlu einen Film gedreht über einen Imker, der in Anatolien den für die Region besonderen schwarzen Honig erntet, eine der edelsten Honigsorten der Welt, und dem irgendwann schlicht und ergreifend die Bienen ausgehen, weswegen er aufbricht, um an entlegeneren Stellen nach ihnen zu suchen.

"Bal - Honig" bildet hierbei den Abschluss von Kaplanoğlus Yusuf-Trilogie – nach "Yumurta - Ei" und "Süt - Milch". Die Trilogie wird als langer Flashback erzählt: in "Yumurta" war Yusuf ein erwachsener, ca. 40 Jahre alter Mann, in "Süt" etwa 20. In "Bal" nun schließlich ist er sechs Jahre alt. Die Gemeinsamkeiten sind offensichtlich, auch wenn Kaplanoğlu bemüht ist, nicht final preiszugeben, ob die drei Yusuf-Figuren ein und dieselbe Person darstellen. Letzten Endes spielen die drei Filme in der Gegenwart, an verschiedenen Orten und unter unterschiedlichen Vorzeichen und stehen in dieser Form jeweils für sich. Es ist daher nicht erforderlich, Kaplanoğlus zwei Vorgängerwerke zu kennen, um "Bal" verstehen zu können. Nichtsdestotrotz kann es mitunter hochinteressant sein, den sechsjährigen Yusuf mit dem 20- oder 40-jährigen Yusuf zu vergleichen und Anzeichen dafür zu suchen, weswegen Yusuf so wird wie er wird, und in welcher Form sich manche Charaktermerkmale damals schon offenbart haben.

Yusuf wird zum Zeitpunkt des Drehs vom sieben Jahre alten Bora Altaş gespielt. Man könnte meinen, dass Bora nur sich selbst spielt und damit im Grunde gar keine großen Anstrengungen unternehmen muss, aber Altaş ist im wahren Leben sehr kontaktfreudig und damit das krasse Gegenteil zum scheuen und introvertierten Yusuf. Er musste also tatsächlich schauspielern und tat dies außerordentlich gut. Yusuf ist Dreh- und Angelpunkt des Films und schafft es, mit seiner ruhigen Art und seinen großen Augen sofort jegliche Sympathien auf sich zu ziehen. Man hat Mitleid mit ihm, als er beim Vorlesen vor der Klasse stottert und seine Augen glasig werden, obwohl er daheim seinem Vater perfekt vorlesen kann. Man kann ihm sogar nicht mal böse sein, als er die Hausaufgaben seines Banknachbarn als seine eigenen ausgibt und ihn deshalb der Kritik seines Lehrers aussetzt, da Yusuf ihm nur ein leeres Heft unterjubelt. Dafür ist er viel zu liebenswürdig. Darüber hinaus ist er es, aus dessen neugierigen und geradezu ehrfürchtigen Augen der Zuschauer die Umwelt wahrnimmt – und dafür muss man ihn einfach lieb haben.

Denn die Art und Weise, wie Kaplanoğlu die Natur präsentiert, ist schlichtweg atemberaubend. So lebensnah wurde das Erlebnis, das man hat, wenn man das Summen von Bienen oder das Knacken von Ästen hört, geradezu den Regen riechen kann, der auf Yusuf niederprasselt und dabei Bilder präsentiert bekommt, die in ihrer Zusammenstellung einfach nur wunderschön sind, bisher nur äußerst selten durch das Medium Film transportiert. Die Farben sind prächtig, die Tiefenschärfe ist derart stark ausgeprägt, dass sich selbst bei langen Einstellungen dem Zuschauer immer neue Aspekte erschließen. Dass Kaplanoğlu sowohl auf künstliche Ausleuchtung als auch auf die Verwendung eines Soundtracks verzichtet, verstärkt diesen Eindruck nur umso mehr. Und so ist nicht nur für Yusuf und seinen Vater Yakup der Wald ein magischer Ort voller Geheimnisse und Schönheit, sondern durch die großartige Inszenierung auch direkt für den Zuschauer.

Am Ende ist daher auch gar nicht wichtig, wie viel Handlung in "Bal" steckt. Man sollte es in Anbetracht der vielen Alltagsszenen vielleicht am ehesten als slice of life ansehen, also als einen Einblick in das Leben eines Menschen (in dem Fall Yusuf) in Spielfilmformat, denn die übliche Dramatik und abgeschlossene Handlung von Filmen greift hier einfach nicht. Es geht um einen kleinen Jungen, wie dieser die Welt sieht mit all ihren Wundern, die für Erwachsene selbstverständlich geworden sind, welchen Schwierigkeiten er tagtäglich ausgesetzt ist und wie er mit dem Verschwinden seines Vaters umgeht. Spektakuläre Gefühlsausbrüche sucht man hier genauso vergebens wie sonderlich viele Dialoge. Die Ruhe zwischen den Charakteren in Verbindung mit den Klängen der Natur ist das, was den Film vorantreibt.

Fazit

Der Gewinner des Goldenen Bärs bei der letztjährigen Berlinale ist voll von eindrucksvollen Momenten und phänomenalen Bildern und kommt ganz ohne Soundtrack oder eine ausgefeilte Dramatik aus. Sollte man erwarten, dass hier endlich mal was Offensichtliches passiert, ist man beim falschen Film gelandet, denn darum geht es gar nicht. Die Devise lautet zurücklehnen, staunen und seine Sinne beflügeln lassen, denn inbesondere letzteres beherrscht "Bal" perfekt.

Andreas K. - myFanbase
24.04.2011

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