Bewertung
Angela Schanelec

Orly

"Ich werde bleiben."

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Inhalt

Ein Morgen am Flughafen Orly in Paris: die beiden im Ausland lebenden Franzosen Vincent (Bruno Todeschini) und Juliette (Natacha Régnier) kommen in der Abflughalle vor ihren Flügen nach San Francisco bzw. Kanada ins Gespräch und erzählen sich bald ihre ganze Lebensgeschichte. Eine Mutter begleitet ihren Sohn zur Beerdigung seines Vaters, von dem sie sich vor Jahren getrennt hat. Ein junges deutsches Paar kommt von seinem ersten gemeinsamen Urlaub zurück und hat sich nur noch wenig zu sagen, und die Französin Sabine (Maren Eggert) traut sich erst in der Anonymität des Flughafens, den Abschiedsbrief ihres verstorbenen Geliebten zu lesen.

Kritik

Ein Episodenfilm, der am Flughafen spielt. Viele Emotionen, viele Geschichten, eine unglaubliche Fülle von Charakteren und Begegnungen. Von der Grundstory her klingt "Orly" wie der perfekte Film für mich und ehrlich gesagt hätte ich es nie für möglich gehalten, dass es jemandem tatsächlich gelingen kann, unter diesen Voraussetzungen einen langweiligen und bis auf wenige Stellen völlig banalen Film zu drehen – doch "Orly" hat mich leider eines besseren belehrt.

Juliette und Vincent, die Protagonisten der ersten Episode, sollen augenscheinlich ein Paar darstellen, das sich durch Zufall am Flughafen trifft und sich innerhalb der kurzen Zeit in der Wartehalle ineinander verliebt. Doch leider haben die beiden Darsteller überhaupt keine Chemie und schaffen es nicht einmal ansatzweise, dass diese Story den Zuschauer irgendwie berührt oder auch nur halbwegs interessiert. Dazu kommt, dass die Dialoge zwischen Juliette und Vincent keinerlei Tiefgang haben. Zwar erzählen sich beide ihre Lebensgeschichte, aber dabei bleiben sie auf einem völlig oberflächlichen Niveau und reden außerdem völlig aneinander vorbei. Keiner geht auf den anderen ein, das Gespräch wirkt wie ein erzwungener Smalltalk und nicht wie das zweier Seelenverwandter. Es hapert, in dieser Episode wie im ganzen Film, ganz gewaltig an der Umsetzung, schauspielerisch wie filmisch. Die Grundidee ist nicht schlecht und hat durchaus Potenzial, doch alles wird so langatmig und emotionslos erzählt, dass man als Zuschauer schon nach diesen ersten zwanzig Minuten das Interesse verloren hat.

Keine gute Voraussetzung für die zweite Episode, die dann auch noch erzähltechnisch so unglücklich beginnt, dass man die Lust an diesem Film völlig verliert. Die namenlose Mutter und ihr namenloser Sohn sitzen vor ihrem Abflug im Café des Flughafens und unterhalten sich minimalst, bevor erst der Sohn und dann die Mutter kurz verschwinden und man eine gefühlte Ewigkeit lang den jeweils anderen alleine am Tisch sitzen sieht. Und es passiert – nichts. Ganz ehrlich: Man könnte jeder Person an einem Flughafen eine Kamera in die Hand drücken und sie würde definitiv eine spannendere Geschichte finden als die, die Regisseurin und Drehbuchautorin Angela Schanelec in "Orly" erzählt. Nach unendlich scheinenden Minuten, in denen mir mindestens fünf bessere Storylines eingefallen sind, kommt die Handlung endlich wieder in Gang und Mutter und Sohn fangen wenigstens an, sich zu unterhalten. Selten habe ich zwei unangenehmere Figuren in einem Film gesehen, die eine überwältigende Antipathie erwecken – das ist an sich nicht unbedingt etwas Schlimmes, immerhin provozieren sie Emotionen. Aber für die Atmosphäre des Films bedeutet dieses angespannte Gespräch den absoluten Tiefpunkt, vor allem weil dieses dann am interessantesten Punkt, nachdem der Sohn in einem schockierenden Nebensatz sein Coming Out hat, einfach abgebrochen wird.

Die einzige Storyline, die teilweise gut umgesetzt ist, ist die des jungen deutschen Paares. Hier gelingt es Schanelec, einen schönen Subtext einzubringen und trotz der oberflächlichen Gespräche die tieferliegenden Emotionen frei zu legen. Interessant ist dabei, dass der Zuschauer das Auseinanderdriften des Paares fast schon quälend offensichtlich beobachten kann; eine wirklich intensive Charakter- und Beziehungsstudie, die durchaus auch auf der gesamten Länge eines Filmes funktionieren würde und den Wunsch erweckt, dass Angela Schanelec diese funktionierende Story nicht erst ins letzte Drittel von "Orly" gelegt hätte. Diese Storyline beinhaltet für mich auch die stärkste Szene des ganzen Films, als der junge Mann eine Kleinigkeit im Flughafenshop kauft und dabei eine Frau entdeckt, die sich später als Sabine herausstellt. Aber darauf kommt es nicht an, nicht nur weil Sabines Story den Film ebenso langweilig beendet, wie er angefangen hat, sondern weil der junge Mann ihren Namen und ihre Geschichte nie erfährt. Ihre einzige Interaktion geschieht während einer langen, ungeschnittenen Szene, als beide sich ihren Weg vom Shop durch die Wartehalle bahnen, dabei wie von einem unsichtbaren Faden zusammen gehalten werden und sich nicht aus den Augen verlieren. Auch wenn kein Wort gewechselt wird und dieser Anflug einer Liebesgeschichte schon aufhört, bevor sie begonnen hat, fesseln diese wenigen Minuten den Zuschauer mehr, als das ganze Gelaber von Vincent und Juliette. Diese eine Szene ist wirklich wunderbar und man fragt sich, wieso nicht die ganzen 78 Minuten des Filmes genau so subtil und doch fesselnd sein können.

Die zum Großteil unausgegorenen Geschichten (von der sinnlosen Evakuierungsstory will ich gar nicht erst anfangen) sind leider nicht das einzige Problem von "Orly": Wie bereits erwähnt, lässt der Film auch visuell einiges zu wünschen übrig. Realismus und Dokustil in allen Ehren, aber ich muss nicht minutenlang sehen, wie eine für die Handlung des Films komplett irrelevante Flughafenangestellte ihr Pausenbrot verspeist. Schanelec verliert sich in diesen ewig langen Einstellungen, die mit der Zeit nicht nur langweilig, sondern wirklich nervig sind. Auch wenn es ohne jede Frage eine grandiose Leistung ist, im normalen Flughafenbetrieb ohne Statisten nur mit zwei Kameras einen Film zu drehen, so wirkt "Orly" durch die wenigen Schnitte wie ein abgefilmtes Theaterstück und nicht wie ein Kinofilm. Bis auf die erwähnte Szene zwischen dem jungen Mann und Sabine schafft es der Film leider nicht, mit diesem distanzierten Stil die nötigen Emotionen zu entwickeln – und die nur in wenigen Fällen überzeugenden Schauspieler tun ihr Übriges dazu.

Fazit

Trotz einer guten Grundstory und einem ambitionierten Filmstil kann "Orly" nicht überzeugen. Die Umsetzung der Episodengeschichten ist nicht stimmig und funktioniert in großen Teilen nicht, was durch die strikte Trennung der Episoden nur verstärkt wird. Langweilig, zäh und anstrengend - da sitzt man lieber selbst in einer Flughafenwartehalle, als sich "Orly" anzuschauen.

Lena Stadelmann - myFanbase
14.11.2011

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