Bewertung
Sion Sono

Himizu - Dein Schicksal ist vorbestimmt

"Auch wenn mein Leben so viel wert wie Dreck ist, möchte ich es nutzen, um der Gesellschaft Gutes zu tun."

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Inhalt

Yuishi (Shota Sometani) ist 14 Jahre alt und lebt im Tokio nach dem Tsunami. Er hat einen gewalttätigen Vater (Ken Mitsuishi) und eine desinteressierte Mutter und führt ein einsames Leben, wenn man von den Obdachlosen, die neben seinem Bootshaus in Zelten wohnen, absieht. Yuishi ist völlig desillusioniert und hat sich schnell mit dem Gedanken abgefunden, ein langweiliges Leben zu führen. Zu allem Überfluss muss er sich auch noch um den Gangster Kaneko (Denden) kümmern, der auf den Plan gerufen wird, als Yuishis Vater sich bei ihm extrem verschuldet. Doch seine Mitschülerin Keiko (Fumi Nikaidou), die ihn vergöttert, möchte Yuishi dabei helfen, seinem Leben Bedeutung zu geben. Allerdings kann sie zunächst nur erahnen, wie zerstört Yuishi mittlerweile seelisch wie körperlich ist und wie er immer gewalttätigere Wege finden muss, um die ihn umgebende Leere zu kompensieren.

Kritik

Sion Sono, die Skandalnudel unter den japanischen Regisseuren, ist wieder da. Nach dem Abschluss seiner "Hate"-Trilogie, bestehend aus "Love Exposure", "Cold Fish" und jüngst "Guilty of Romance", hat er sich nun der Verfilmung eines gefeierten Mangas verschrieben. "Himizu", die gleichnamige Vorlage, ist ein Manga aus dem Jahre 2001/2002 über einen Jungen, der nach einer Vielzahl von Schicksalsschlägen irgendwann nur noch eine Möglichkeit sieht, sich zu artikulieren – über Gewalt. Der Manga spielt im Japan des Jahres 2050, wohingegen Sonos Adaption kurzerhand die Handlung in das heutige Japan verlegt hat, genauer gesagt in die Zeit nach dem verheerenden Tsunami.

Sono nimmt sich so manche Freiheiten bei seiner Verfilmung, insbesondere aber die Berücksichtigung des Tsunamis bzw. vielmehr dessen Auswirkungen auf die japanische Bevölkerung, ist sicherlich die bedeutendste. Der gesamte Film ist geprägt von der Ausweglosigkeit, der Ohnmacht und dem an den Tag gelegten Nihilismus, den viele Japaner kurze Zeit nach der Katastrophe empfanden, und ist damit das perfekte Setting, um die tragische Geschichte rund um Yuishi zu erzählen. Niemand scheint sich für den Anderen zu interessieren, da er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist und damit, sein eigenes Leben irgendwie auf die Reihe zu bekommen. Yuishis Verhalten ist derart auffällig, dass allein der Umstand, dass in seinem Umfeld noch nicht alle Alarmglocken schrillen, perfekt die gänzlich auf sein eigenes Selbst konzentrierte Post-Katastrophen-Ära beschreibt. "Himizu" ist in der Radikalität seiner Hauptfigur darüber hinaus durchaus politisch. Trotz unterschiedlicher Plots ist Sonos Filmen bisher immer der Wunsch des Hauptcharakters gemein gewesen, sich von der eigenen Bedeutungslosigkeit zu lösen. Aber durch eine verstärkte Thematisierung der Nebencharaktere und -geschichten malt er diesmal ein breiteres Bild einer Gesellschaft, die eine derartige Entfremdung vollzogen hat, dass ihre Mitglieder gar nicht mehr auf angemessene Art und Weise miteinander agieren können.

Entsprechend durchzogen von Gewalt ist "Himizu". Auffällig ist jedoch, dass diese nun weniger explizit und graphisch aufgezogen ist als u.a. noch in "Cold Fish" oder "Guilty of Romance", was auch den eher ungewohnten "FSK ab 16"-Sticker auf DVD und Blu-ray erklärt. Wer möglichst einprägsame Gewaltorgien mit viel Blut sucht, ist bei "Himizu" an der falschen Adresse. Die Gewalt ist physisch in Form immer wieder getätigter Schläge und mental durch gegenseitige Beschimpfungen zwischen nahezu jeder einzelnen Figur des Films viel zu allgegenwärtig, als dass es hier notwendig wäre, über Gebühr zu schocken. Im Gegenteil, das gut zweistündige Drama zeigt derart selbstverständlich, wie unumkehrbar kaputt alle sind und wie sie irgendwie versuchen, durch unterschiedlichste Bewältigungsrituale ihrem Leben irgendwie Sinn oder zumindest Erleichterung zu geben, dass dieses Ambiente viel länger beim Zuschauer Wirkung zeigt.

Eine weitere Freiheit, die sich Sion Sono bei seiner Verfilmung im Vergleich zur Mangavorlage nimmt, betrifft die Nebenfiguren. Im Manga, einem Medium, das oft darauf setzt, auf möglichst wenigen Seiten eine Vielzahl an Emotionen unterzubringen, sind die Nebencharaktere (im Übrigen u.a. mal so eben besetzt mit dem jeweiligen Hauptdarsteller aus "Guilty of Romance" und "Cold Fish") derart übertrieben gezeichnet, dass dort vielleicht deren Skurrilität funktioniert. Selbst bei asiatischen Filmen von vermeintlichen Skandalregisseuren aber, die westliche Sehgewohnheiten immer wieder herausfordern, wäre eine 1:1-Übertragung nicht möglich gewesen, ohne dass der Film an Glaubwürdigkeit verloren hätte. Dennoch muss man sich daran gewöhnen, dass geradezu kindliche und ausgelassene Freude sich mit dramatischen Aufschreien der Wut und Verzweiflung schon fast im Sekundentakt abwechseln. Das fällt vor allem in der ersten Stunde auf, wo "Himizu" augenscheinlich manchmal nicht so recht weiß, wo er eigentlich hin möchte und die Identifikation des Zuschauers mit Yuichi wie Keiko noch nicht vollständig vollzogen wurde. Dementsprechend sind die ersten 60 Minuten von "Himizu" auch mit das Schwächste, was Sion Sono bisher abgeliefert hat, da nicht die nötige Balance zwischen Ernsthaftigkeit, Humor und der eigentlichen Wucht der Story gefunden wird.

Das alles ändert sich jedoch in der zweiten Hälfte. Das Ausmaß, wie sehr Yuishi den Bezug zur Normalität verloren hat, wird hier ebenso offensichtlich wie seine Absicht, tatsächlich etwas Gutes tun zu wollen – nur leider auf völlig falsche Art und Weise. Und während dies alles in einer unvermeidbaren Katastrophe mündet, erhält auch die Rolle der Keiko deutlich mehr Facetten als nur die Stalkerin von Yuishi zu sein. Die durch und durch ungewöhnliche Beziehung der beiden zueinander, gepaart mit dem Wunsch beider, bessere Menschen zu werden und dafür so manche Hindernisse in Kauf zu nehmen, vereint nicht nur die beiden Teenager, sondern lässt auch den Zuschauer mitfiebern. Die beiden Jungschauspieler Shota Sometani und Fumi Nikaidou schaffen es, allein den Film zu tragen und eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen innerhalb kürzester Zeit glaubwürdig zu transportieren. Entsprechend verdient sind die beiden 2011 für ihre Rollen in "Himizu" gemeinsam mit dem Marcello-Mastroianni-Preis ausgezeichnet worden, einer Auszeichnung der Filmfestspiele von Venedig für die besten Jungschauspieler, die in den letzten Jahren auch Jennifer Lawrence, Mila Kunis oder Gael García Bernal erhielten.

Fazit

"Himizu" startet eher verhalten, um schließlich fabelhaft zu enden, glücklicherweise auch tatsächlich in dieser Reihenfolge und mit einer zweiten Hälfte, die sehr viel vergessen macht, weil sie so ungemein stark ist. Diese drastische Steigerung beruht darauf, dass man fokussierter die Beziehung zwischen Yuishi und Keiko voran trieb, dadurch zwei der besten Jungschauspieler Japans glänzen konnten und die politische Intention des Films sich herauskristallisierte. Sion Sono hat aus einem sehr guten Manga ein ganz eigenes Werk gemacht, ohne dessen Wurzeln gänzlich zu verfremden. Abgesehen von der Vorliebe für klassische Musik als Untermalung und der einen oder anderen WTF-Szene ist "Himizu" dennoch ein eher untypischer Sono. Glücklicherweise muss man sich um den kreativen Output Sonos keine Gedanken machen, denn er hat seitdem bereits wieder mehrere Filme abgedreht, die sicherlich wieder stärker seine Handschrift tragen werden.

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Andreas K. - myFanbase
21.12.2013

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