Bewertung
Abdellatif Kechiche

Blau ist eine warme Farbe

"Ich hab's Gefühl, ich täusch' nur vor. Ich täusch' alles nur vor. Mir fehlt was. Es..."

Foto: Copyright: 2013 Alamodefilm
© 2013 Alamodefilm

Inhalt

Adèle (Adèle Exarchopoulos) ist ein 17 Jahre altes Mädchen und besucht die 11. Klasse. Ihr bis dato durchaus normales und geregeltes Leben wird völlig auf den Kopf gestellt, als sie auf Emma (Léa Seydoux) trifft, eine junge Frau mit blauen Haaren, die sie sofort fasziniert. Sie beginnt eine Liebesbeziehung mit Emma, und lernt, was es heißt, einen anderen Menschen zu begehren, tiefe Lust zu verspüren und wächst in der Beziehung deutlich für ihre Freunde und Familie sichtbar von einem immer irgendwie etwas verloren wirkenden Mädchen zu einer sich selbst bewussten Frau, die gerade ihren Weg im Leben und sich selbst findet.

Kritik

Es gibt diesen einen Moment, noch ziemlich zu Beginn des Films, als Adèle bei der ersten Verabredung mit ihrem künftigen Freund Thomas ihre Leidenschaft für Bücher zum Ausdruck bringt und ihm erzählt, wie sehr es ihre eigene Vorstellungskraft einschränkt, wenn diese allzu sehr auseinander gepflückt werden in Schule und Co. und so einem Teil ihrer Magie beraubt werden. In einem Drama, das gespickt ist mit bereits jetzt legendären Szenen, sticht dieser Moment im Grunde gar nicht allzu groß heraus. Er kann aber auf "Blau ist eine warme Farbe" selbst übertragen werden, auf einen Film, den dasselbe Schicksal erleiden kann, wie die Bücher, von denen Adèle spricht. Seitdem das neueste Werk von Regisseur Abdellatif Kechiche der Öffentlichkeit präsentiert wurde, hat er dazu angestiftet, die Hintergründe näher zu beleuchten, sei es die Beziehung des Regisseurs zu seinen beiden Hauptdarstellerinnen, die Frage, wie weit ein Filmemacher eigentlich gehen darf bei dem, was er seinen Schauspielern zumutet oder wie der Film entstanden ist und hat darüber hinaus eine (in weiten Teilen scheinheilige) Diskussion über den sexuellen Akt und in welcher Form dieser in dem Medium Film thematisiert und gezeigt werden darf, befeuert.

Der interessierte Leser kann all dies nachlesen auf diversen Portalen, da es, wie sonst vielleicht üblich, nicht Gegenstand der vorliegenden Review sein wird. Die geschieht aus dem einfachen Grund, weil es darum gar nicht gehen soll und vielleicht auch gar nicht darf. Denn die emotionale Wucht, mit der der Zuschauer bei "Blau ist eine warme Farbe" getroffen wird, wirkt für einige am besten, wenn sie vor ihrem Gang ins Kino oder dem Moment, wo sie den Film anderweitig genießen, maximal die Eckpunkte kennen. Eine der wichtigsten: Auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes in diesem Jahr wurde zum allerersten Mal in der fast 60-jährigen Geschichte nicht nur "Blau ist eine warme Farbe" als Film mit der Goldenen Palme, der bedeutendsten Auszeichnung dort, ausgezeichnet, sondern auch explizit die beiden Hauptdarstellerinnen Adèle Exarchopoulos und Léa Seydoux innerhalb dieses Preises mit gewürdigt. Wer den Film gesehen hat, weiß warum. Er weiß, warum allzu tiefgreifende Diskussionen, die diesem Werk vorweg gehen, dem Genuss eher hinderlich sind und warum einen dieses dreistündige französische Drama noch viele Stunden, nachdem es vorbei ist, über ganz essentielle Themen nachdenken lässt und im vorliegenden Fall den Autor dieser Review dermaßen tief berührt (dies tut es immer noch), dass es eine schlaflose Nacht bei ihm verursachte.

"Blau ist eine warme Farbe" entfaltet eine emotionale Tiefe, wie sie im europäischen Kino bisher trotz sagenhafter Filme bisher nur sehr selten präsentiert wurde, vielleicht auch nie. Dabei erzählt der Film im Grunde ja auch nicht mehr als "nur" eine Liebesgeschichte. Aber die Art und Weise, wie diese erzählt wird, über alle Phasen hinweg, von dem ersten Blickkontakt bis schließlich der Trennung und dem Versuch, danach noch Kontakt zu halten, ist in dieser Form absolut ungewöhnlich. Es wird nichts geschönt, nichts versteckt und keine wichtige Entwicklung ausgelassen. Im Gegenteil, nicht wenige Momente werden sich vor allem deshalb für immer ins Gedächtnis des Zuschauers einbrennen, weil sie in voller Gänze gezeigt werden und nicht nur wenige Schlüsselsekunden daraus. Denn oft geht es um den Kontext, in dem sich Gefühle zeigen, um die Intensität dieser, um die Entwicklung eben jener über den gesamten Verlauf der Interaktion, welche dem Publikum vollständig die Möglichkeit nehmen, eine Distanz zum Geschehen aufzubauen und sich bis zu einem gewissen Grad emotional zu lösen von dem, was auf der großen Leinwand geschieht. Man läuft in das offene Messer von Kechiche und ist ihm nicht nur über den dreistündigen Verlauf des Films hinweg ausgeliefert, sondern auch danach, wenn es für den einen oder anderen erforderlich sein kann, sich bewusst abzulenken, um wieder zur Tagesordnung über zu gehen.

Wenn man liest, wie "Blau ist eine warme Farbe" im Grunde teils eher eine Dokumentation ist als ein Film, da über 800 Stunden (!) Filmmaterial entstanden sind und Exarchopoulos selbst beim Schlafen gefilmt wurde, bekommt man in etwa einen Eindruck davon, wie real all das Gezeigte ist und welche Auswirkungen so etwas vor allem auch auf alle, die am Film beteiligt waren, aber insbesondere auf Exarchopoulos und Seydoux, hatte. Da haben sich zwei junge Frauen mit Haut und Haaren einem Projekt hingegeben, das den Zuschauer nicht mehr loslässt. Wie soll es dann ihnen dabei ergehen? Sicherlich, auch darauf geben zahlreiche Interviews Aufschluss, aber in diesem Fall sollte man vor allem die eigene Vorstellungskraft bemühen, um das Unbegreifliche greifbar zu machen. Wenn die Grenze zwischen Drehtag und Freizeit, zwischen Realität und Fiktion, derart verschwimmt, dann überträgt sich dies auch auf den Film und auf das, was artikuliert werden soll. Unbestreitbar.

Nichtsdestotrotz ist "Blau ist eine warme Farbe" ein fiktives Werk und ist daher auch als solches zu bewerten. Dementsprechend ist die schauspielerische Leistung auch so zu betrachten und setzt den Fokus unweigerlich auf Hauptdarstellerin Adèle Exarchopoulos. Exarchopoulos ist in jeder einzelnen Szene (!) des Films zu sehen, ihre durch ihre meist leicht verschlossenen Augen und ihren immer etwas geöffneten Mund verträumt wirkende Art führt den Zuschauer über die gesamte Spielzeit durch ihre Welt und ihr Leben. Kann man noch ganz zu Beginn der Meinung sein, dass man als Darstellerin durchaus mehr zeigen könnte von sich und seinen Fähigkeiten (oh, wie falsch man damit liegt!), wird schnell offenbart, dass man hier Zeuge einer Form des Schauspiels ist, die es erlaubt, nach kurzer Zeit im Gesicht der Figur, in ihrer Gestik, ihrem allgemeinen Auftreten, alles zu sehen, was es zu sehen gibt. Und schon bald reicht eine Aufnahme ihres Gesichtes, um in ihre Gefühlswelt hineingezogen zu werden, bevor diese aktiv an die Umgebung kommuniziert wurde. Dies ist auf so vielen unterschiedlichen Ebenen höher anzurechnen als das möglichst schnelle Rauf- und Runterrattern einer fiktiven Gefühlsleiter, dass man am Ende nur zu einem Schluss kommen kann: Adèle Exarchopoulos als Adèle ist ein Naturereignis, ein Erlebnis, dessen Erfahrung man machen muss, um nachvollziehen zu können, welch große Leistung dies ist. Denn fassbar in einem Text ist das, was sie da abzieht, schon längst nicht mehr. Dass hier mit keinem Wort die Rede von Léa Seydoux' Leistung ist, die in jedem anderen Film sich derart nach vorne gespielt hätte, dass sie jeden Schauspielpreis der Welt verdient hätte, ist der Versuch, dies zu verdeutlichen.

Fazit

"Blau ist eine warme Farbe" ist eine sinnliche, komplexe, ergreifende und herzzerreißende Geschichte über Liebe, Sex, Verlust und Selbstfindung, über ein Mädchen, das zur Frau wird, über zwei Menschen, die für immer miteinander verbunden sein werden und kurzum schlicht das Beste, was das ohnehin herausragende europäische Kino in den vergangenen Jahren hervor gebracht hat.

Andreas K. - myFanbase
24.12.2013

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