Hunger
'Ich habe versucht – keinen Roman, sondern ein Buch zu schreiben, ohne Heiraten, Landpartien und Bälle beim Großkaufmann, ein Buch über die feinen Schwingungen einer empfindsamen Menschenseele, über das besondere, eigenartige Gemütsleben, die Mysterien der Nerven in einem ausgehungerten Körper.' (Knut Hamsun)
Im Zentrum des Buches steht die Darstellung des Seelenlebens eines erfolglosen Schriftstellers in Norwegen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Er ist gezeichnet von der Armut, ausgemergelt vom Hunger nach Nahrung ebenso wie nach einem Sinn für sein Leben, nach Erfolg als Schriftsteller, nach der Nähe zu einem anderen Menschen. Formal wie inhaltlich besteht das Buch aus vier Stücken, die jeweils beinahe gleichlang sind. Jedes Stück bildet einen zirkulären Zyklus, in dem der Ich-Erzähler scheinbar ziellos durch Norwegens Hauptstadt Oslo, dem damaligen Kristiania, wandert. Bei äußerer Handlungsarmut weist der Text in weiten Zügen inneren Monolog und erlebte Rede auf, dabei liegt ein stetiger Wechsel zwischen erzählendem Präsens und Präteritum vor. Dadurch wird der Leser zur direkten Anteilnahme am Geschehen verleitet und gleichzeitig aber auf Distanz gehalten, da sich die Geschichte eben in der Vergangenheit zugetragen hat.
Der Beginn jeder seiner Wanderungen in den vier Stücken ist von guter Hoffnung geprägt, dann aber beschreiben all seine Wege den gleichen Teufelskreis, in dem der Erzähler steckt. Seine Hoffnungen werden zumeist enttäuscht. Doch jeweils kurz vor dem Ende fällt ihm durch Zufall etwas in die Hände, was ihn für kurze Zeit über Wasser hält. Über diese Zeiten erfährt der Leser allerdings nichts, denn sie verschwinden zwischen den Zeilen.
Einen Unterschied bildet das Ende des letzten Stückes und somit des Buches. Der Protagonist scheint einen Ausbruch aus dem Teufelskreis gefunden zu haben, indem er auf einem Schiff anheuert und die Stadt, die ihm kein Glück gebracht hat, verläßt. Hierbei ist ihm das Ziel gleichgültig, so gleichgültig, daß sogar unerwähnt bleibt, daß die Stadt, in die das Schiff einlaufen soll, keinen Hafen besitzt. Somit bleibt also das Motiv des Ziel- und Sinnlosen auch am Schluß erhalten.
Ambivalenz und Ironie
Gleich zu Anfang erfahren wir eine der Selbstbestätigungsmaßnahmen des Protagonisten. Er prüft anhand von an seiner Zimmertür hängenden Anzeigen, wie es um seine Sehfähigkeit steht. Dies wiederholt er diverse Male, um sich selbst zu beruhigen, wodurch der Leser die Angst des Erzählers erkennt, seiner Sinne nicht mehr Herr zu sein. Ebenso aber werden wir bei der Lektüre auch schon früh Zeuge seiner durch den Hunger geschärften Wahrnehmung. Er beobachtet seine Umwelt auf das Genaueste, nicht das kleinste Detail entgeht ihm.
Auf der einen Seite steht seine Angst durch die Mangelerscheinungen seine Sehfähigkeit oder ähnliches zu verlieren, gleichzeitig aber ist er in vollem Bewusstsein darüber, dass seine Beobachtungsgabe durch seinen aktuellen Zustand durchaus nicht beeinträchtigt, ja sogar eher unterstützt wird. Eine weitere Doppelwertigkeit ist in seinem Mitteilungsbedürfnis anzutreffen. Einerseits sucht er geradezu verzweifelt nach Kommunikationspartnern, spricht Schutzmänner oder fremde Leute auf der Straße aus heiterem Himmel an, vorgebend, dass dies von ihm erwartet würde. Wendet sich ihm aber jemand wohlmeinend zu, schlägt seine Stimmung rasant um und entlädt sich in verbaler Aggression. So gelingt es ihm nie wirklich, einen vernünftigen Kontakt zu einem Menschen herzustellen, obwohl es ihn offensichtlich danach verlangt.
Ein weiteres Beispiel für diese Tatsache ist das erste, zufällige Aufeinandertreffen mit einer jungen Frau, für die sich der Protagonist den Namen Ylajali ausdenkt. Sofort fühlt er sich von ihr angezogen, kann dies aber nicht auf herkömmliche Art und Weise zum Ausdruck bringen, sondern versucht, mit kleinen Frechheiten auf sich aufmerksam zu machen. Zwar ist er mit dieser Taktik erfolgreich, aber im weiteren Verlauf des Textes wird deutlich, dass er auch diesem Kontakt nicht gerecht werden kann.
Den ausführlichsten Monolog des Buches hält er, nachdem er Ylajali beim ersten Tête-à-tête in ihrer Wohnung seinen desolaten Zustand offenbart hat. Hier zeigen sich deutlich seine Selbstzweifel, seine Selbstverurteilung. Die Frau selbst kommt gar nicht zu Wort, er legt ihre Mimik und Haltung in diesem eigentlichen Dialog, den er mit sich selbst führt, als Zurückweisung seiner Person aus. Die Ironie liegt darin, dass er mit seiner Selbstverdammnis viel zu beschäftigt ist um zu bemerken, dass sie zwar betroffen, aber nicht herz- und gefühllos reagiert, dass sie keiner seiner hoffnungslosen Vermutungen zustimmt.
Ein anderer Bereich der Ironie umfasst die Selbsteinschätzung seiner schriftstellerischen Fähigkeiten. Immer wieder schafft er sich ein neues Vorhaben, wie das Verfassen einer philosophischen Abhandlung, das seine Möglichkeiten übersteigt. An einer Stelle scheitert er an den fehlenden Mitteln für eine Kerze, an anderer fehlt ihm der Bleistift und an wieder anderer Stelle schreibt er einen "Anfang zu allem möglichen" , kann diese Arbeit aber nicht fortsetzen.
Die Entfremdung des Protagonisten von seinem Körper
Der Höhepunkt der Ironie liegt meines Erachtens in dem Moment, da der Protagonist versehentlich von einem schwer beladenen Brotwagen angefahren wird. Er hat kein Brot, um seinen Hunger stillen zu können, was ein Bestandteil seines Teufelskreises bildet: Er muss schreiben, um Essen kaufen zu können, aber er braucht ebenso Nahrung, um überhaupt schreiben zu können. Da erscheint es geradezu grotesk, dass ihm ein Nahrungsmittellieferant über die Füße fährt und er eine erhebliche Verletzung davonträgt, die er nicht behandeln lassen kann. Das Verhältnis des Protagonisten zu seinem Körper ist im Text durchweg zwiegespalten. Er fühlt sich gefangen im eigenen Körper, belastet durch physische und optische Mangelerscheinungen.
Gleichzeitig vollstreckt sich eine Entfremdung von seinem Körper, der sich außerdem in Einzelteile aufzulösen scheint. In einem wahnsinnigen Moment probiert er sogar, einen seiner Finger zu essen, was wohl die Klimax seiner Verzweiflung darstellt.
Ein anschauliches Bild des Ekels sich selbst gegenüber zeichnet der Protagonist in seiner Erzählung mit Insekten, die seinen Körper zu zerfressen scheinen. Er ist völlig auf sich allein gestellt, kann sich mangels Kontakten und aufgrund eines zu hohen Stolz- und Ehrgefühls an niemanden wenden, ist von seiner Umwelt dadurch beinahe völlig abgeschnitten. Das am häufigsten verwandte Wort des Buches ist "leer" (neben anderen Vertretern aus der dazugehörigen Wortfamilie) gleichzeitig genutzt in Bezug auf die innere und äußere Leere.
Fazit
Hamsuns Buch "Hunger" wurde von der zeitgenössischen Kritik als "grausig, ekelhaft, brutal" und daher "überflüssig" bezeichnet, doch meines Erachtens macht gerade Hamsuns detailgenaue Schilderung des Leidens des Protagonisten das Buch zu einem Meisterwerk. Der Ekel, den sowohl der Protagonist sich selbst gegenüber, als auch der Leser gewissen Handlungen, wie dem Biss in den eigenen Finger, gegenüber empfindet, ermöglicht dem Leser Verständnis und ein Gefühl für die Hoffnungslosigkeit, in der der Protagonist sich befindet. Die Brutalität, mit der die Realität bei dem Protagonisten zuschlägt, wird dem Leser durch die Ironie und die zahllosen Symbole so bildlich veranschaulicht, dass man den Schmerz des Protagonisten geradezu mitempfindet.
Nicole Oebel - myFanbase
24.06.2009
Diskussion zu diesem Buch
Weitere Informationen
Originaltitel: SultISBN: 3546004493
Anzahl Seiten: 236
Genre: Roman
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