Bewertung
O'Brien, Caragh

Die Stadt der verschwundenen Kinder

Sag mir, wo die Kinder sind!

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Inhalt

In dem kleinen Städtchen Wharfton führen die Menschen ein Leben in Armut. Beherrscht von der Enklave, die im Inneren einer Mauer thront, werden sie mit der nötigen Nahrung sowie Wasser versorgt. Im Gegenzug müssen die Bewohner allerdings die drei erstgeboren Kinder eines Monats an die Enklave übergeben und sehen sie nie wieder. Niemand stellt Fragen. Ebenso wenig wie die sechzehnjährige Gaia Stone. Als frisch ausgebildete Hebamme und Assistentin ihrer Mutter beugt auch sie sich den Regeln, ohne mit der Wimper zu zucken. Bis eines Tages ihre Eltern plötzlich verhaftet werden und Gaia nach Wochen der Einsamkeit an der Enklave zu zweifeln beginnt. Warum wurden ihre Eltern wirklich verhaftet? Und was hat es mit diesem codierten Band auf sich, das ihre Mutter ihr hinterlassen hat und das Gaia unbedingt zerstören soll, bevor es in die falschen Hände gerät? Ihr bleibt nur ein Ausweg: sie muss innerhalb der Mauern gelangen, damit sie der Sache auf den Grund gehen kann...

Kritik

Eines vorweg: die Äußerlichkeiten dieses Buches passen leider nicht so ganz. Auf den ersten Blick werden Dinge versprochen, die dem Inhalt nicht wirklich gerecht werden. Man könnte glatt von einer optischen Täuschung sprechen. Weder geht es in diesem Buch wirklich um verschwundene Kinder, wie es der deutsche Buchtitel (im Original "Birthmarked") und der Buchrücken ankündigen, noch besitzt das (trotzdem wunderschöne) Buchcover einen echten Bezug zur Handlung, ausgenommen die Sommersprossen auf den Gesichtern der Frauen. Doch damit muss Garagh O'Brien sich nicht belasten, schließlich ist sie für den Kern der Geschichte, und nicht für die Verpackung verantwortlich. Und der Inhalt kann sich durchaus sehen lassen.

Erzählt wird auf knapp 462 Seiten die Geschichte der sechszehnjährigen Gaia Stone, die im Armenviertel von Wharfton, außerhalb des Machtzentrums der Enklave, aufwächst. Getrennt werden beide Stadtteile durch eine Mauer, die die Grenze zwischen Arm und Reich darstellt. Während Gaia und ihre Mutter, als die einzigen Hebammen ihres Sektors, die drei erstgeborenen Babys eines jeden Monats den Müttern direkt nach der Entbindung entreißen und der Enklave bringen müssen, leben die Menschen innerhalb der Mauer ein glücklicheres und wohlhabenderes Leben. Das zumindest glauben die Bewohner aus Wharfton, die hart für Speis und Trank arbeiten müssen, inklusive der Erfüllung der monatlichen Babyquote. Dafür werden sie mit notwendigen Ressourcen wie Kleidung und Nahrung entlohnt. An dieser Stelle sei also betont, dass Gaia und die anderen Bewohner wohl wissen, was mit ihren Kindern geschieht: Zwangsadoption lautet das Zauberwort, mehr oder weniger. Denn einige der Eltern geben ihre Neugeborenen freiwillig weg, in der Gewissheit, dass ihre Kinder auf der anderen Seite ein schöneres Leben geboten bekommen. Warum sie ihr eigen Fleisch und Blut jedoch entbehren müssen, darüber werden die Bewohner größtenteils im Unklaren gelassen.

Es ist schon ein schrecklicher Gedanke, der sich einem auf den ersten Seiten dieser Dystopie offenbart, die circa vierhundert Jahre in der Zukunft spielt, und anfangs entsprechend schockiert. Nachdem eine Mutter ihr Kind zur Welt gebracht hat, muss Gaia es ihr sofort entwenden und der Enklave ausliefern, sonst ist nicht nur Gaia selbst in Gefahr, sondern ihre ganze Familie. Zuerst enthüllt sich dem Leser ein Mädchen, das fest daran glaubt, das Richtige für die Gemeinschaft zu tun, und scheinbar nur wenig Mitgefühl an den Tag legt, um kurz darauf eines besseren belehrt zu werden. Denn als Gaias Eltern plötzlich, ohne ein wirkliches Verbrechen begangen zu haben, verhaftet werden und Gaia wochenlang nichts von ihnen hört oder sieht, beginnt sie sich gegen die Willkür der Enklave aufzulehnen. Und so beschließt sie in "die Stadt der verschwundenen Kinder" einzudringen, um die Eltern auf eigene Faust zu befreien, egal welchen Preis sie am Ende dafür zahlen muss.

Man könnte Gaia als ein furchtloses und leicht eigensinniges Mädchen beschreiben, das eine wilde Entschlossenheit an den Tag legt und sich nicht einschüchtern lässt. Das macht sie stark und gleichzeitig sympathisch ... und manchmal unnahbar. Dennoch wirkt ihr Charakter hin und wieder eindimensional und manchmal lässt sich ihre Motivation nicht richtig nachvollziehen. So dreht sich vieles, was sie tut, um ihr Aussehen. Durch ein unübersehbares Narbengeflecht auf der einen Gesichtshälfte gezeichnet, fühlt Gaia sich oft wie eine Missgeburt, die unmöglich von jemandem geliebt werden kann. Das wird unnötigerweise in fast jedem Kapitel erwähnt. Was in mir jedoch hin und wieder Bedenken auslöste, waren die manchmal nebulös begründeten Entscheidungen, die einzelne der Protagonisten im Verlauf der Handlung treffen. Allen voran Gaia (von der einen auf die andere Minute hinterfragt sie das bisherige System und geht auf die Barrikaden) und später noch ein Verbündeter (ich will nicht zu viel verraten), wenn er sich Gaia unter fadenscheinigen Begründungen anschließt und ihr des Öftern hilft.

In den Grundzügen erinnerte mich "Die Stadt der verschwundenen Kinder" stark an die erfolgreiche Trilogie "Die Tribute von Panem". In beiden Welten ist eine junge Heldin auf sich allein gestellt, muss gegen die Ungerechtigkeit der dystopischen Gesellschaft ankämpfen (bei Katniss sind es die Hungerspiele, bei Gaia die Zwangsadoptionen sowie die Gefangenschaft ihrer Eltern) und lebt in Armut, während der Feind ein beschauliches Leben im Luxus führt – Vergangenheit trifft auf Zukunft. So backt der normale Bürger in Wharfton das Brot in einem mittelalterlichen Backofen (Zimtschnecken und Crêpes gibt es trotzdem), Krankenhäuser sind verboten und Verurteilte werden am Galgen gehenkt oder hinterrücks erschossen. Die Oberschicht hingegen bedient sich der neusten High-Tech-Mittel wie Kameras oder futuristischer Flachbildschirme und genehmigt sich zu feierlichen Anlässen gerne mal ein prächtiges Feuerwerk.

Im Vergleich mit Suzanne Collins durchweg packendem Endzeit-Szenario, hat Caragh O'Briens manchmal schleppendes Gesellschaftsdrama jedoch das Nachsehen. Die Handlung beginnt spannend und bringt einen ins Grübeln, schlägt dann aber zwischenzeitlich ruhigere Töne an und kommt nicht richtig in Schwung. Erst zum Ende hin wird es wieder richtig aufregend und einige unvorhersehbare Wendungen nehmen ihren Lauf. Leicht romantische Entwicklungen werden ebenfalls geboten, spielen aber eine nebensächliche Rolle. Und last but not least, wie soll es auch anders sein, endet die Geschichte mit einem abrupten Cliffhanger, denn auch hier handelt es sich um eine Romanreihe.

Fazit

Ist man über die anfängliche Verblüffung erst einmal hinweg (rein optisch betrachtet), entführt einen Caragh O'Briens erster Jugendroman in eine widersprüchliche und erschütternde Zukunft, die man sich eigentlich nicht ausmalen möchte - auf den ersten Blick scheinbar perfekt, auf den zweiten Blick jedoch mit einigen Makeln behaftet. Das trifft auf den Roman wie auf diese Gesellschaft gleichermaßen zu. Kein Grund jedoch, sich diesen dennoch funktionierenden Serienauftakt entgehen zu lassen.

Doreen B. - myFanbase
02.03.2011

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