Bewertung
Rowling, Joanne K.

Ein plötzlicher Todesfall

"Barry Fairbrother war tot. Ausgelöscht. Umgehauen. Kein Ereignis von nationaler Bedeutung [...] hätte in Shirley diese Ehrfurcht, dieses leidenschaftliche Interesse und die fieberhaften Spekulationen auslösen können, die sie momentan verzehrten."

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Inhalt

Der plötzliche Tod des Gemeinderatsmitglieds Barry Fairbrother versetzt die englische Kleinstadt Pagford in große Aufregung. Barry hat erbittert dafür gekämpft, die umstrittene Sozialbausiedlung Fields und die Drogenklinik Bellchappel zu erhalten. Nach seinem Tod wittern seine schärfsten Widersacher Howard und Shirley Mollison ihre Chance, die "Schandflecken" voller "Sozialschmarotzer" endlich loszuwerden und ihren Sohn Miles in den Gemeinderat wählen zu lassen. Barrys engste Verbündete, der Stellvertretene Schulleiter Colin Walls und die Ärztin Parminder Jawanda, wollen das Lebenswerk ihres verstorbenen Freundes hingegen retten, scheinen jedoch machtlos gegen die in Pagford vorherrschende Engstirnigkeit und Selbstgerechtigkeit. Zudem können sie ihre eigenen Probleme kaum bewältigen. Auch der cholerische Familienvater Simon Price kämpft um den freigewordenen Posten im Gemeinderat, in der Hoffnung, Bestechungsgelder abgreifen zu können. Bald nehmen eine Reihe von Intrigen und Verwicklungen ihren Lauf, die mehrere Leben zerstören.

Kritik

Es weiß wohl niemand besser als Joanne K. Rowling selbst, dass jeder weitere Schritt, den sie in ihrer Schriftstellerkarriere tut, an "Harry Potter" gemessen wird. Leser, Kritiker, Verleger, sie alle sehen in Mrs. Rowling an erster Stelle die Erschafferin des berühmtesten Zauberlehrlings der Welt und erst danach eine Schriftstellerin, die auch andere Romane schreiben kann und will. Wirtschaftlich gesehen müsste sich die Britin der Herausforderung, dass skeptische Publikum mit neuen Werken zu überzeugen, nicht stellen, doch warum sollte sie mit ihrem Können, ihren Ideen und ihrem Wissen hinterm Berg halten, wenn bei ihr die Motivation, Bücher zu schreiben, noch immer vorhanden ist?

Mit "Ein plötzlicher Todesfall" gibt Joanne K. Rowling unmissverständlich zu Protokoll, dass sie sich auch als Autorin für Erwachsenenliteratur sieht und den Anspruch hat, Gesellschaftskritik zu üben. "Ein plötzlicher Todesfall" ist eine harte Milieustudie, die hinter die gutbürgerliche Fassade einer kleiner englischen Gemeinde blickt, die auch eine deutsche, eine amerikanische oder eine französische sein könnte. Zum Vorschein kommen dabei Vorurteile, Selbstgerechtigkeit, Gefühlskälte, Hilflosigkeit und viele andere menschliche Schwächen, die erschreckend wirken, weil sie so echt sind. Es stößt uns Leser ab, mit welcher grausamen Selbstverständlichkeit Simon Price seine Frau und seine Söhne schikaniert, wir verachten die engstirnige Haltung von Howard und Shirley Mollison, die sich selbst unheimlich wichtig nehmen, und uns widern die Feigheit wie auch die Selbstsucht vieler der Charaktere an, doch gleichzeitig wissen wir, dass es solche Menschen wirklich gibt, weil wir ihnen im wahren Leben ständig begegnen. Man kann sich die Figuren dieses Romans bildlich hervorragend vorstellen und wünscht sich zugleich, man könnte es nicht.

Eine entscheidende Thematik ist die Kluft zwischen Arm und Reich, wobei keine Seite als charakterlich besser dargestellt wird. Eine Überwindung der Kluft scheitert an Vorurteilen, Misstrauen und Ignoranz. Viele Einwohner von Pagford empfinden die Bewohner der Sozialbausiedlung Fields als faule, unverbesserliche Schmarotzer, die nur Unordnung und Kriminalität in die Gemeinde bringen. Auch diejenigen, die sich für den Erhalt der Siedlung und der Drogenklinik einsetzen, sind nicht frei von Intoleranz und Unverständnis, sondern werden in erster Linie von eigenen Zielen und Wünschen angetrieben.

Einen klassischen Sympathieträger gibt es in diesem Roman nicht. Selbst die verstorbene Lichtgestalt Barry Fairbrother wird mit der Zeit kritisch hinterfragt. Dass der Leser keine Figur hat, an die er sein Herz hängen kann, macht die Kälte und Hoffnungslosigkeit, die der Roman vermitteln will, noch spürbarer, sorgt aber auch automatisch für eine Distanz, durch die man nicht komplett in die Handlung eintaucht.

Wer Romane bevorzugt, in denen es mehr Licht als Schatten gibt, sollte "Ein plötzlicher Todesfall" im Regal stehen lassen. Es werden keine Lösungen angeboten. Am Ende des Romans hat sich für viele der Charaktere zwar die äußerliche Situation verändert, doch sind sie überwiegend noch in den gleichen Denkmustern und Unzulänglichkeiten gefangen wie zu Anfang. Sie haben kaum etwas dazugelernt, sich kaum weiterentwickelt. Das ist ebenso authentisch wie ernüchternd.

Fazit

Wir sind hier eindeutig nicht bei "Harry Potter" oder in einer anderen fantasievollen Welt, die zum Träumen und Hoffen animiert. "Ein plötzlicher Todesfall" ist kalt, schroff und authentisch.

Maret Hosemann - myFanbase
05.11.2012

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