Bewertung
Senger, Valentin

Kaiserhofstraße 12

"Aber wir überlebten. Und je mehr ich in meiner Erinnerung herumkrame, um so erstaunter bin ich darüber, daß Papa überlebt hat, daß ich noch lebe und daß Paula noch lebt. Und ich frage mich, ob es das wirklich gibt, daß in einem einigen Leben so viele Zufälle Platz haben?"

Foto: Copyright: Schöffling & Co.
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Inhalt

In der Frankfurter Kaiserhofstraße wohnen in den 1920er Jahren die verschiedensten Menschen aus mehreren Gesellschaftsschichten zusammen: Da gibt es zum einen gutbürgerliche Familien und Besitzer edler Delikatessengeschäfte, zum anderen aber auch Schauspieler und Musiker der nahe liegenden Oper, außerdem zwei Prostituierte und ein Transvestit. Unbehelligt leben hier auch mehrere jüdische Familien, darunter Valentin mit seinen Geschwistern Paula und Alex und seinen Eltern, die sich eine etwas beengende Wohnung im Hinterhaus der Kaiserhofstraße 12 teilen. Valentins Eltern sind russische Kommunisten, die nach Frankfurt ausgewandert sind, an ihren Überzeugungen aber nach wie vor festhalten.

Hitlers Machtergreifung setzt dem bunten Treiben in der Kaiserhofstraße ein Ende. Familie Senger ist zu arm, um zu emigrieren, also bemüht sich die resolute Mutter, alle Spuren ihrer jüdischen Vergangenheit zu verwischen. Valentin wächst unter widrigen Umständen heran. Obwohl die meisten Nachbarn wissen, dass sie Juden sind, und obwohl die Sengers in eine brenzlige Situation nach der anderen geraten, überleben sie das Dritte Reich.

Kritik

Über dreißig Jahre gehen ins Land, bis Valentin Senger die Geschichte seiner Familie niederschreibt. Sein Buch ist zwar autobiographisch, aber trotzdem wie ein Roman verfasst. In den kurzen Kapiteln gibt Senger mit einer direkten, ungekünstelten Sprache Einblick in das Leben einer jüdischen Familie. Senger gelingt das Kunststück, zwischen witzigen und schockierenden Situationen zu wechseln, ohne dabei seine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

"Kaiserhofstraße 12" ist besonders geeignet für Menschen, die sich nicht wie wild auf Romane oder Filme über den Zweiten Weltkrieg stürzen. Zwar vermittelt er die Angst und den Druck, den von der NSDAP verfolgte Menschen erleiden mussten, aber dessen ungeachtet ist der Roman nicht nur deprimierend, sondern beschreibt auch komische Momente. Nebenbei bekommt der Leser durch die Augen des jungen Valentins die wichtigsten Geschichtsdaten wie die Reichspogromnacht berichtet.

Auch wenn unzählige Familien grauenhafte Schicksale erlebt haben, bleibt Valentin Senger dies erspart. Das ist unser Glück, denn dadurch können wir diesen beachtenswerten Zeitzeugenbericht lesen.

Fazit

"Kaiserhofstraße 12" ist für diejenigen empfehlenswert, die bereits ein gutes Geschichtswissen besitzen und dieses um die ungewöhnlichen Memoiren eines Zeugens erweitern wollen. Aber vor allem den Lesern, die sich bisher davor gescheut haben, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen, sei der Roman ans Herz gelegt. Auch wenn Senger die Nazis nicht verharmlost – wie auch, als direkt Betroffener! – so liest sich der Roman, dennoch leichtfüßig, da er keine wirklich grausamen Szenen beschreibt. Valentin Senger schildert eine Gesellschaft voller Nazis und Mitläufer, unter die sich aber ein paar mutige Menschen mischen, denen er sein Leben verdankt. Auch in den undenkbarsten Zeiten gibt es immer noch Hoffnung.

Isabella Caldart - myFanbase
08.03.2015

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