Bewertung
Auster, Paul

Nacht des Orakels

"Maybe writing was the medicine that would make me completely well again."

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Inhalt

Sidney Orr ist ein junger Schriftsteller, der nach einer kräftezehrenden Krankheit langsam wieder ins Leben zurückfindet. Seine Frau Grace und John Trause, ein älter Schriftsteller und Mentor, sind seine nächsten Vertrauten. Auf wackligen Beinen unternimmt Sidney immer längere Spaziergänge durch Brooklyn und genest Tag für Tag ein wenig mehr. In einem Schreibwarenladen, geführt von einem Chinesen namens Chang, entdeckt der Autor ein portugiesisches Notizbuch mit blauem Einband, das ihm dabei hilft, seine Schreibblockade zu überwinden: Sidney Orr erfindet Nick Bowen, der nach einem Nahtoderlebnis in den nächsten Flieger steigt, der ihn zufällig nach Kansas City bringt. Sidneys Protagonist bricht den Kontakt zu Familie und Freunden ab und baut sich ein neues Leben in Kansas auf. Während Sidney Orr sich in dieser Geschichte verliert, entgleitet ihm seine eigene, echte Welt erst unmerklich und dann immer schneller.

Kritik

Dem spirituellen Titel "Nacht des Orakels" kommen in dem Roman gleich zwei Bedeutungen zu: Nick Bowen, die Figur, die Sidney Orr erfindet und auf eine Reise schickt, arbeitet als Verleger. Noch bevor es Bowen nach Kansas verschlägt, lernt er die Enkelin einer einst bekannten Autorin kennen, die ein altes Manuskript ihrer Großmutter gefunden hat. Der Titel des Manuskripts lautet "Oracle Night". Es geht darin um einen Soldaten, der episodenweise in die Zukunft schauen kann und dabei erfährt, dass seine Frau ihn innerhalb eines Jahres betrügen wird. Der Frau selbst kann er keine Vorwürfe machen, sie hat den Mann, mit dem sie die Liaison haben wird, noch gar nicht kennengelernt. Erfüllt von Gram begeht der Soldat Suizid. Innerhalb dieser Geschichte in der Geschichte verwendet Auster, Paul die von ihm bereits bekannten Motive Schicksal vs. Zufall, Bedeutung und Interpretation der eigenen Erkenntnis, und Unsicherheit, was die Zukunft betrifft. Auch in seinem elften Roman bewegt sich Auster wie gewohnt am Rand der Realität, ohne gänzlich in die Welt der Illusionen überzutreten. So scheint Sidney zu verschwinden, während er in das blaue Notizbuch schreibt – ein Trugbild oder innerhalb des Rahmen der Geschichte doch die Wahrheit? Der Leser wird es nicht erfahren und muss sich seinen eigenen Reim darauf machen.

"Nacht des Orakels" ist aber nicht nur der Name für den Roman in der Geschichte im Roman, es ist auch ein Hinweis auf die Frage, die sich im Verlaufe des Buchs immer wieder stellt: Welche Macht hat das geschriebene Wort? Kann es die Zukunft vorhersehen oder gar beeinflussen, Existenzen zerstören? Zumindest Sidney und John Trause spielen mit diesem Gedanken. Trause erzählt Sidney die Geschichte eines Poeten, der ein Gedicht über ein ertrinkendes Kind veröffentlichte. Nachdem kurz nach der Publikation seine eigene Tochter ertrank, schrieb er bis zu seinem Lebensende nie wieder ein einziges Wort. Und Sidney zerreißt, nachdem er eine Geschichte über ein dunkles Geheimnis seiner Frau Grace (möglicherweise die Wahrheit? Auch das bleibt offen) niedergeschrieben hat, am Ende das blaue Notizbuch und entsorgt die Schnipsel sorgfältig – Aberglaube oder Vorsichtsmaßnahme?

Die kurze Erzählung um den schweigenden Poeten und die Nebenhandlung um Nick Bowen sind nicht die einzigen Handlungen, die in Austers Roman auf einer Metaebene eingeflochten sind. Immer wieder gibt es neue Beispiele von Menschen, die von ihrem vermeintlichen Schicksal verfolgt werden, die die Vergangenheit oder gar die Zukunft peinigt. Diese ineinander verwobenen Geschichten können unabhängig von den Leben Sidneys, Graces und John Trauses gelesen werden, haben aber dennoch eine gewisse Bedeutung für sie. Auch das Schriftbild weist auf die verschiedenen Dimensionen hin: Ungewöhnlich lange Fußnoten erklären den einen Handlungsstrang näher, der im eigentlichen Text gleichzeitig weiterläuft. Das klingt alles furchtbar kompliziert, ist es dank Paul Austers virtuoser Erzählweise aber nicht.

Die vielen kleinen Geschichten, die in dem Roman geschildert werden, bleiben größtenteils offen; das einzige Mal, als Sidney für einen Hollywoodfilm ein Happy End verfasst, wird das Drehbuch abgelehnt. Zuversicht ist fehl am Platz. Allein das Ende der übergeordneten Geschichte gibt Anlass zur Hoffnung – allerdings bleibt auch diese Frage offen: Was bewegt Sidney Orr zwanzig Jahre später, sich an die neun schicksalhaften Tage im Jahre 1982 zu erinnern und diese niederzuschreiben? Wie der Leser in "Nacht des Orakels" weiß, bleibt nichts dem Zufall überlassen. Doch was war der Auslöser für Sidney?

Paul Austers "Nacht des Orakels" ist ein großartiger kleiner Roman über eine Reihe typischer Auster-Figuren. Bevorzugt beschreibt der Autor den sogenannten "kleinen Mann", der ein starkes Identifikationspotential für den Leser birgt. Auch die Nebencharaktere sind, selbst wenn sie nicht persönlich zu Wort kommen, glaubwürdig dargestellt.

Neben den immer wiederkehrenden Leitmotiven in all seinen Romanen sind auch die Protagonisten, die zumeist Auster nachempfunden sind, vergleichbar: Weiße, männliche Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln, verlorene Seelen, die in New York leben. Die persönliche Note, die der Autor in seine Romane einbringt, funktioniert wunderbar, solange sie subtil bleibt. In "Nacht des Orakels" gibt es allerdings einen Bruch in der traumtänzerischen Welt am Rande der Illusionen, als gegen Ende Trauses (lies: Trause als Anagramm zu Auster) Sohn auftaucht, der psychische Probleme hat und tief in das kriminelle Milieu verwickelt ist. Paul Austers eigener Sohn war mit den sogenannten "Club Kids", einer Gruppe Partygänger, die durch ihr exzentrisches Auftreten und illegale, ausschweifende Feiern in den 1980er- und 1990er-Jahren amerikaweit ihre fünfzehn Minuten Ruhm hatten, verbandelt. Nach einem barbarischen Mord 1996 ging diese Ära abrupt zu Ende. Paul Austers Sohn, der selbst mit Drogenproblemen zu kämpfen hatte, war zum Zeitpunkt dieses Mordes am Tatort anwesend. Die Geschichte um die Club Kids wurde übrigens 2003 unter dem Titel "Party Monster" mit Macaulay Culkin und Seth Green in den Hauptrollen verfilmt. Um zum Roman zurückzukommen: In der Figur und in den Handlungen von John Trauses Sohn liegt der einzige Schwachpunkt in dem sonst wunderbar durchkomponierten Buch. Mit seinem Auftreten findet eine brutale Zäsur in dem Roman statt, die dieser nicht nötig hätte.

Fazit

Mit "Nacht des Orakels" schafft es Paul Auster erneut, essentielle Themen, komplexe Handlungen und menschliche Abgründe so leichtfüßig zu beschreiben, dass der Leser durch den postmodernen Roman schwebt und erst beim Luftholen begreift, welche Schicksale er beim Lesen in sich aufgenommen hat. "Nacht des Orakels" hebt sich thematisch zwar nicht vom restlichen Repertoire Austers ab, gehört aber trotzdem zu seinen Meisterwerken.

Isabella Caldart - myFanbase
10.10.2015

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