Bewertung
Shteyngart, Gary

Kleiner Versager

"But what kind of profession is this, writer?" my mother would ask. "You want to be this?"
I want to be this.

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Inhalt

Gary, der einst Igor hieß, ist sieben, als seine Eltern im Jahre 1979 mit ihm aus der Sowjetunion fliehen. Nach mehreren Monaten in Europa kommen sie schließlich in Queens, New York, an. Gary hat Probleme damit, sich zu integrieren, bekommt zahlreiche Dämpfer seitens der Eltern (lies: üble Schimpfwörter an den Kopf geworfen) und ist in der jüdischen Grundschule das zweitunbeliebteste Kind. Zum Glück gibt es immer noch einen, auf den Klein-Gary auch herabschauen kann. Während seine amerikanischen Klassenkameraden die neuesten Fernsehserien sehen, muss sich der fernsehlose Gary damit vorlieb nehmen, selbst Geschichten zu erfinden. Die Eltern wünschen sich für ihren einzigen Sprössling eine Karriere als Jurist, doch dieser entscheidet sich dazu, Autor zu werden. Leicht fällt ihm dieser Schritt nicht. Zwar bekommt er von allen Seiten bescheinigt, dass er brillante Texte schreibt, aber Gary ergeht sich lieber in Selbstmitleid und Selbstmedikation.

Kritik

Im Alter von nur 38 Jahren veröffentlichte Igor Semyonovich Shteyngart, besser bekannt mit seinem amerikanischen Vornamen Gary, seine Autobiographie – wobei er darin gerne mit der Wahrheit spielt. Aber das nur als Fußnote. Gary, handle es sich dabei nun um das Selbstbild des Autors oder um eine fiktive Figur, ist wahrlich kein sympathischer Typ. Gerne verweist er auf sein jüdisch sein, um den nie abbrechenden Selbstmitleid und Selbsthass zu erklären. Shteyngarts Stil ist voller Ironie, vor allem Selbstironie; am schlechtesten kommt in "Kleiner Versager" sein Alter Ego weg. Trotz dieser Ironie geht es aber selbst dem geduldigen Leser mit der Zeit auf die Nerven, die vielen kleinen Verfehlungen und Vergehen Garys präsentiert zu bekommen. Dieser wird mit der Zeit immer mehr zu einem egoistischen Egozentriker (doppelt schlimm!). Als er einen älteren Mäzen kennenlernt, der ihn über Jahre hinweg emotional und finanziell unterstützt, markiert dieser Mann glücklicherweise den Wendepunkt im Leben des Schriftstellers: Nach jahrelangen Enttäuschungen trifft der ältere Mann die Vereinbarung mit Gary, dass er einen Therapeuten aufsuchen solle. Endlich!, ruft da der gequälte Leser.

Und trotzdem ist Gary über viele Strecken ein interessanter Protagonist, der sich als kluger und gewitzter Beobachter entpuppt. Anhand seiner Kleinfamilie erzählt Shteyngart eine Immigrantengeschichte voller Verlust und Tod. Bei den vielen Rückblicken in seine Vergangenheit, besonders in die sowjetische, bleibt Shteyngart aber gewitzt und wird nie sentimental. Er vermittelt dem Leser einen guten Einblick in den Alltag eines sowjetischen Kinds, das von seinen Entbehrungen noch nichts ahnt und erst in den USA (dem einstigen Feind!) merkt, was für ein tristes Leben er bis dato geführt hatte. Gary wird erwachsen, lernt Englisch und nach und nach, sich nicht mehr wie ein Außenseiter zu fühlen. Seine große Schwachstelle werden bis zu seiner Hochzeit aber die Frauen sein, die ihm, der eigenen Wahrnehmung zufolge, keines Blickes würdigen. Besonders den satirischen Beschreibungen seiner Schulzeit und dem Versagen bei den Frauen hätten seitenweise Kürzungen keinen Abbruch getan. Davon abgesehen ist Garys Leben "Kleiner Versager" ein spannender wie lehrreicher Bildungsroman, der viele Facetten des Erwachsenwerdens unter widrigen Umständen beleuchtet und zugleich einfühlsam die Flucht vor einer Diktatur und dem Aufbau eines neuen Lebens in einem fremden Land erzählt.

Fazit

Gary Shteyngart nimmt kein Blatt vor den Mund und lässt seine Leser die Bedeutung des Wortes Fremdschämen neu definieren. Von dem zu langen Lamentieren über sein Versagen abgesehen, ist Shteyngarts warmherzige Autobiographie eine sprachlich gelungene, hochinteressante Geschichte über drei Migranten, die sich beim Klassenfeind zunächst mit Ach und Krach und dann immer besser integrieren. Und es ist die Geschichte eines angehenden Schriftstellers mit all seinen Einschränkungen und schlussendlich doch mit einem Happy End.

Isabella Caldart - myFanbase
05.12.2015

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