Alle Toten fliegen hoch: Amerika
"Ich nahm den amerikanischen Straßenatlas, den mein Vater mir geschenkt hatte. Was Laramie oder Wyoming die Stadt? Ich fand die Seitenangabe und blätterte mich durch die Staaten. Mein erster Eindruck von Wyoming war: Keine Straßen. Andere Staaten waren überzogen von engmaschigem Straßengewirr. Wyoming war total leer."
Inhalt
Joachim wächst in der norddeutschen Provinz in einer Mittelschichtsfamilie mit beiden Eltern und zwei Brüdern auf. Der große Traum: Ein Austauschjahr in Amerika machen, Basketball spielen und nebenbei auch dem drohenden Sitzenbleiben zu entgehen. Doch schon der Tagestrip nach Hamburg zum Vorentscheid zeigt dem Schüler, dass er, der sich so weltgewandt glaubte, kaum auf eigenen Füßen stehen kann. Um sich gegen die Konkurrenz der ihm übermächtig erscheinenden Großstädter durchzusetzen, kreuzt er auf dem Fragebogen spontan an, dass er gerne auf dem Land wohnen würde und strenggläubig sei. Tatsächlich wird Joachim ausgewählt und darf ein High-School-Jahr in den USA absolvieren – allerdings nicht in New York oder Chicago, sondern in dem nach Alaska bevölkerungsärmsten Staat Amerikas.
In Laramie, Wyoming, kämpft der Ich-Erzähler mit Heimweh und um Akzeptanz, wird dreimal in die Woche in die Kirche geschleppt und lernt nur langsam Englisch. Doch er beißt sich durch, schafft es ins Basketballteam, wird Brieffreund eines deutschen Todeskandidaten und hat zum ersten Mal Sex. In Deutschland bleibt das Leben jedoch auch nicht stehen: Einer seiner Brüder stirbt bei einem Autounfall.
Kritik
Ob Karl Ove Knausgård oder Joachim Meyerhoff – es ist momentan en vogue, das eigene Leben gleich bücherweise zu rekapitulieren. In ganzen sechs Teilen tut Knausgård dies mit der Autobiographie "Min Kamp" (wobei sein deutscher Verlag Luchterhand auf die wörtliche Übersetzung des Titels verzichtete) und auch die Reihe "Alle Toten fliegen hoch" von Meyerhoff schafft es auf stolze drei Bände. Anders als der norwegische Schriftsteller ist Meyerhoff weniger erschöpfend detailgetreu – zum Glück.
Joachim Meyerhoff ist vor allem als Theaterschauspieler bekannt, so ist er sowohl beim Burgtheater als auch beim Deutschen Schauspielhaus Hamburg Ensemblemitglied. Dass in ihm ein fesselnder Erzähler steckt, beweist "Alle Toten fliegen hoch", entstanden aus einem sechsteiligen Theaterstück mit gleichem Namen. Mit selbstironischem Witz und einem feinen Gespür für Situationskomik erzählt er aus der Distanz von rund 25 Jahren von seinen Erlebnissen irgendwo im Nirgendwo Amerikas. In dem erzkonservativen Staat Wyoming wird fleißig gebetet und den McDonald's aufgesucht. Beim Abendessen sitzen die Familien um den Fernseher und schauen wiederrum einer Fernsehfamilie beim Essen zu. Und dazwischen passiert das, was zur Jugend gehört: Schule, Hauspartys und peinliche Dates.
Es ist das alltägliche Leben, von dem Meyerhoff erzählt, einer durchschnittlichen Existenz ohne große Heldentaten. Das ist zugleich auch das Geheimnis des Buches: Meyerhoff bleibt nahe beim Leser und nimmt ihn mit auf seine Reise, berichtet von den Anekdoten seines jungen Lebens zugleich mit dem pointierten Witz der Übertreibung. Er setzt dabei einen Plauderton an, der wirkt, als würde er mündlich seine Geschichte erzählen.
Viele Szenen in "Amerika" sind urkomisch, andere fast nicht zu glauben. Da trifft der Ich-Erzähler beispielsweise seinen ehemaligen Lehrer, einen untersetzten Typ mit so muskulösen Oberarmen, dass er kein Glas mehr zum Mund heben kann, der ihn spontan ins Wyoming State Prison mitnimmt. Joachim lernt dort einen deutschen Doppelmörder kennen, der später in Deutschland vor seiner Haustür auftaucht. Wahrhaft autobiographisch? Sei's drum, nicht umsonst ist der Zyklus – wie übrigens auch bei Knausgård – mit dem Wort "Roman" umschrieben.
Bliebe es bei den Anekdoten aus Norddeutschland und Wyoming, so wäre "Amerika" ein netter, aber eher belangloser Roman. Der überraschende Tod des Bruders verleiht dem Ganzen den nötigen Tiefgang. Der junge Joachim fliegt nach Deutschland zurück. Doch als er sein eigenes Leid und das seiner Eltern nicht mehr ertragen kann, entschließt er sich dazu, sein Austauschjahr fortzusetzen – in den fernen USA beherrscht die Trauer nicht sein Leben. Zugleich empfindet er Schuldgefühle darüber, den Tod so leicht verdrängen zu können. Besonders in den Passagen rund um die Familientragödie läuft Meyerhoff als Schriftsteller zu Höchstform auf. Sie sind eindringlich in ihrer vermeintlichen Leichtigkeit und vor allem: nie sentimental. "Schon lange bin ich nicht der Jüngste von uns dreien. Das ist er jetzt.", schließt Meyerhoff den Roman.
Fazit
Herrlich schräg und herrlich alltäglich zugleich ist das Leben des Ich-Erzählers in dem ersten Teil von "Alle Toten fliegen hoch". Mit viel Gefühl, aber gänzlich ohne Sentimentalität, legt Joachim Meyerhoff einen klassischen Coming-of-Age-Roman vor, der durch seine scharfsinnige Beobachtungen und seinen Humor überzeugt.
Isabella Caldart - myFanbase
24.01.2016
Diskussion zu diesem Buch
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (DE): 15.02.2011Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 3462044362
Anzahl Seiten: 321
Genre: Roman, Biographie
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