Bewertung
Smith, Patti

M Train: Erinnerungen

"–Wie kommt es, dass wir uns aus den Augen verlieren und immer zurückkehren?
–Kehren wir wirklich zueinander zurück, antwortete ich, oder kommen wir nur hierher und treffen uns zufällig?
Er gab keine Antwort.
–Es gibt nichts Einsameres als das Land, sagte er.
–Wieso einsam?
–Weil es so verdammt frei ist."

Foto: Copyright: Verlag Kiepenheuer & Witsch
© Verlag Kiepenheuer & Witsch

Inhalt

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, doch der Mensch braucht Abwechslung. Kein Mensch liebt Alltagsroutine und zugleich Abenteuer so sehr wie Musikerin, Autorin und Künstlerin Patti Smith. Jeden Tag geht sie in ihr geliebtes Café 'Ino im New Yorker West Village, sitzt am gleichen, an "ihrem", Tisch und trinkt schwarzen Kaffee – und wehe dem, der sich erdreistet, ihren Tisch zu besetzen! Da kommen dem leidenschaftlichen Krimifan schnell anschauliche Mordphantasien.

Mit seinen Gedanken, Erinnerungen und Phantasien ein Buch zu füllen geht nur, wenn man Patti Smith ist. "Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben", heißt es im ersten Satz von "M Train". Und irgendwie schafft sie es doch, dieses Nichts zu beschreiben und so sehr mit Leben zu füllen, dass es am Ende Alles ist. Patti Smith sammelt Steine für Jean Genet, Patti Smith schläft nach einer Magenverstimmung in Diego Riveras Bett und Patti Smith folgt den Spuren eines längst vergessenen deutschen Polarforschers. Aus diesen unterschiedlichen Mosaikstückchen konstruiert sie ihre Memoiren, die keine typischen Memoiren sind, und verwebt die Vergangenheit mit der Gegenwart und ihren Träumen.

Kritik

Zunächst: Man muss kein Fan Patti Smiths sein oder sich mit ihrer Biographie auskennen, um "M Train: Erinnerungen" lesen und genießen zu können. Das Buch richtet sich an alle kulturell Interessierten, an alle, die Sinn für Kunst, Literatur, Geschichte und Schönheit haben. Anders als "Just Kids", das relativ linear von Patti Smiths jungen Jahren und dem Aufstieg in die New Yorker Künstlerszene erzählt, gibt es in "M Train" nur wenige Begleiter. Es geht um das Alleinsein, um das Nachdenken und um die kleinen Momente im Leben, aber auch um den großen Verlust geliebter Menschen.

"M Train" ist ein Buch voller Stimmung und Emotionen, in dem sich die Autorin nicht davor fürchtet, ihre Seele der Welt zu präsentieren, gleichzeitig aber gänzlich auf überzogene Selbstdarstellung und Banalitäten verzichtet, wie sie sonst in Autobiographien zu finden sind. Es werden keine spannenden Begegnungen erwähnt, keine großen Namen außer denen nie gekannter Verstorbener, kein Konzert. "M Train" beschreibt das Leben im Kopf einer wahren Intellektuellen, die große Kunst über die eigene Inszenierung stellt. Was dabei nie ausbleibt, sind Humor und Selbstironie.

Die Stimme Patti Smiths in diesem Buch ist sanft und intensiv zugleich, in assoziativen Gedankensprüngen schiebt sie verschiedene Zeitebenen ineinander, springt in einem Stream-of-consciousness-artigen Erzählstil von einer Erinnerung zur nächsten und bewahrt sich zugleich eine kohärente Logik und ihre ganz eigentümliche Melodik. Der Übersetzerin Brigitte Jakobeit gelingt das Meisterstück, die melancholische Grundstimmung und Smiths träumerische und fesselnde Stimme unverfälscht ins Deutsche zu übertragen.

Gespickt ist das Buch mit schwammigen Schwarzweißaufnahmen, "kryptische Fotos, die für jeden relativ wertlos sind, nur für mich nicht." Die Fotos sind wie das Buch selbst: Sie zeigen nur einen Ausschnitt oder einen Gegenstand, der aber für das größere Ganze steht: Ein Stuhl kann lediglich ein Stuhl sein, er kann aber auch aufgeladen sein mit Bedeutung, wie der abgebildete Stuhl von Roberto Bolaño. Es geht weniger um das Objekt als um die Zuschreibung, die Bedeutung und für die Spirituelleren unter uns (zu denen die Autorin ohne Frage gehört) auch um die Aura, die so ein vermeintlich lebloser Gegenstand innehat. Text und Bild gehen eine Symbiose ein, ergänzen einander, können aber dank ihrer mystischen Ausstrahlung alleine dastehen. An einigen Stellen geht es auch in "M Train" sehr esoterisch zu. Aber einem spirituellen Menschen, der über die Toten schreibt und vielleicht das letzte Mal schriftlich auf sein Leben zurückblickt, sei das verziehen.

Fazit

"Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben", heißt es also im ersten Satz. Es ist auch nicht so leicht, über "M Train" zu schreiben. Und es ist nicht immer ganz leicht, Patti Smith auf ihrer Reise zu folgen, denn das Buch beinhaltet nicht mehr und weniger als Alles, auch wenn Patti Smith immer wieder auf diesen Eingangssatz rund um das Nichts zurückkommt. Patti Smiths Reisen nach Tokio, Berlin, Mexiko, an Sylvia Plaths Grab oder auch nach Weimar werden verknüpft mit der aktuellen Realität in New York, als Supersturm Sandy weite Teile der Küste mit sich reißt. Ihren künstlerischen Helden wird gehuldigt, nur ihrer eigenen Kunst kaum. Zwischen den vielen Sprüngen kristallisiert sich schließlich doch die Struktur heraus, der Kreislauf, die immer kehrende Routine, schwarzer Kaffee, Schreiben, Denken. Doch alles hat ein Ende und so schließt auch Dreh- und Angelpunkt des Romans und von Patti Smiths Schreibe seine Pforten: Das Café 'Ino ist Geschichte, verewigt in Patti Smiths Geschichte.

In Berufung auf Ingeborg Bachmann sagte Daniel Kehlmann: "Am unverhülltesten spreche von sich, wer von ganz anderem zu sprechen scheint." Und genau das macht Patti Smith.

Isabella Caldart - myFanbase
20.03.2016

Diskussion zu diesem Buch