Bewertung
Bokelberg, Nilz

Tristesse Renesse

Man kann so langsam erwachsen werden, wie man möchte, aber ein Kind bleibt man deswegen noch lange nicht. Man zögert nur das Unvermeidliche hinaus. Im Wunsch ein Kind zu bleiben, steckt doch vor allem eins: Angst vor dem Tod.

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Inhalt

Nilz Bokelberg plant einige Wochen vor seinem 40. Geburtstag eine Reise, wie sie uns allen gut täte: einmal mit dem Interrail-Ticket durch Europa, die Hotels sind vorgebucht, das Handy außer in Notfällen strikt tabu. Durch diese entschleunigte Art zu reisen – die längste Zugstrecke dauert elf Stunden – bleibt Zeit für die wirklich wichtigen Beobachtungen. Über das Leben, das Aufwachsen, die Liebe und Musik. Dabei entsteht so die eine oder andere Lehre.

Kritik

Der Autor hat signifikante Orte seiner Kindheit, aber auch die ersten Urlaubsziele ohne Eltern ausgewählt, um sie erneut zu besuchen: die Stadt von Hausbootknutschereien, Amsterdam, Renesse in Holland sowie eine neue Stadt für ihn, Nijimegen, Hürth zur Aufzeichnung der "Ultimativen Chartshow", Basel, wo er aus Versehen am Straßenstrich ein Hotelzimmer gemietet hat, über Rimini nach Cervia, Rom, Palermo, über Mailand ins österreichische Seefeld, Innsbruck, über Basel wieder in die Wahlheimat, Berlin.

Dabei findet er natürlich nicht alles wieder so vor, wie er es verlassen hat. So ziehen sich Glücksgefühle, wenn er etwas Altbekanntes wieder entdeckt, und ebenso tiefe Enttäuschung bei Veränderungen durch die Seiten. Und ganz lange Zeit sucht er auch einen Schirm. Denn der November Regen ist fast allgegenwärtig. Tristesse eben. Da kann man schon einmal ins Verzweifeln kommen, speziell wenn in Rom die Idee von Alleinsein durchschimmert, bei Mahlzeiten alleine. Aber so ein Lagerkoller, den kennt man ja auch vom Urlaub mit den Eltern gerne einmal.

Oft ertappt sich Nilz Bokelberg dabei, Dinge zu tun oder zu denken, die ihm als Teenager peinlich gewesen wären. Das Thema wird vor allem dadurch verstärkt, dass Viva ihn schließlich wirklich als Berufsjugendlichen castete – und ihm mit 17 Jahren das Dilemma noch gar nicht bewusst war. Erst, als langsam, aber sicher, der jüngere Nachwuchs nachkam.

Und der Plattenliebhaber sinnt über deutsche Gepflogenheiten nach (Stichwort: "Wagenstandanzeiger"), die Gewohnheitsgenervtheit bei Zugverspätungen, malt sich He-Man-Fanfiction in Holland aus, wird zum Sandwichjunkie und fast "langsam überfahren". So mancher Ort wird besucht, der gar nicht physisch auf der Reise vorkommt – Zelten in Freiburg, krasse Partymissverständnisse in Los Angeles. So ist, obwohl die meisten Urlaubsorte gerade die Schotten dicht machen, doch stets Leben im Buch.

Fazit

Wer als Kind des Nachts über den Brenner oder über Basel nach Italien kam, der wird nachvollziehen können, wie stark die Erinnerungen an den Urlaub mit den Eltern noch sind. Mit seinen tiefsinnigen Reflektionen trifft Nilz Bokelberg nicht nur dann einen Nerv, wenn Bahnanekdoten ausgebreitet werden. Andere Bahnbücher machen das platter, aber dies ist nun mal kein typisches Bahnbuch – zumal dies auch die Spezialität des Podcasts "Gästeliste Geisterbahn" ist. Denn der Moderator baute seine Karriere mit dem YouTube-Kanal "Shortcuts", mit Podcasts, in denen der Alltag auf skurille Weisheiten abgeklopft werden, und eben Büchern aus. Auf das nächste darf man dann schon gespannt sein.

Simone Bauer - myFanbase
03.01.2017

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