Schicksal vs. Freier Wille

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Anfang der zweiten Staffel brachte der Titel von Episode #2.01 das Grundthema der Serie ganz gut auf den Punkt. "Man of Science, Man of Faith" hieß die Folge und schon damals kristallisierte sich heraus, dass auf der Insel zwei Grundhaltungen aufeinandertreffen: der Glaube an eine höhere Macht gegen das rationale Denken. Während Jack Shephard von Beginn an ein sehr analytisch und strategisch denkender Mensch war, so verkörperte John Locke den geläuterten Menschen, der an etwas Übernatürliches glaubte, an eine höhere Macht, die genau ihn auf die Insel brachte und ihn hier leitete. Er glaubte an das Schicksal. Zum Ende seiner Lebzeit hatte er den Glauben an sich und an die Insel längst verloren.

Gegen Ende der Serie, hat sein größter Kontrahent, Jack Shephard, dagegen eine große Wandlung durchgemacht. Durch einige Erfahrungen auf und auch jenseits der Insel wurde ihm allmählich klar, dass es tatsächlich sein Schicksal war, auf der Insel zu sein. Nachdem er die Insel verlassen hatte, spürte er, dass sie dies nicht hätten tun dürfen. Er hatte plötzlich das Gefühl, für etwas Bestimmtes vorgesehen zu sein, was er allerdings bis kurz vor dem Ende nicht wirklich deutlich benennen konnte. Und so überzeugte er die Oceanic Six, zurück zur Insel zu gehen, um dort ihr Leben wieder ins Lot zu bringen.

Freier Wille oder Schicksal?

Stärker als jemals zuvor rückt in der sechsten Staffel nun das Schicksal in den Mittelpunkt der Serie. Plötzlich sprach jemand von Jacobs Kandidaten und auch die Liste, die zu Beginn der Serie eine große Rolle spielte, war wieder in aller Munde. War es den Kandidaten vorherbestimmt, auf die Insel zu gelangen, um dort ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen? Bei dem finalen Gespräch mit Jack, Hurley, Kate und Sawyer deutete Inselhüter Jacob an, dass er viele der Menschen bewusst ausgewählt hatte, auf der Insel zu stranden. Es war also kein Zufall, dass genau diese Menschen auf der Insel gelandet sind. Die erwähnte Liste beinhaltete tatsächlich mögliche Kandidaten, die er auserwählt hatte, um seine Nachfolge anzutreten.

All die Menschen, die Jacob in ihrem alten Leben in der Vergangenheit aufgesucht hatte, führten seiner Ansicht nach ein miserables Leben, das er zu ändern hoffte, als er sie auf die Insel führte. Bei vielen hat er diese positive Änderung durchaus herbeiführen können, man bedenke nur an Sawyers Wandlung vom ich-bezogenen Betrüger hin zum zufriedenen Familienmenschen, der sogar Verantwortung übernahm. Natürlich ging die Selbstfindung nicht für alle Kandidaten so positiv von Statten und viele mussten im Laufe der Zeit ihr Leben lassen. Doch insgesamt profitierten viele der Überlebenden von Flug 815 von dem Absturz ihres Flugzeugs auf die mysteriöse Insel - Sun und Jin fanden nach einer beinahe Trennung zueinander. Claire entschied sich dafür Aaron anzunehmen, Hurley erkannte, dass er nicht verflucht war und Kate konnte sich frei von jeder Schuld auf der Insel bewegen.

Jacob war selbst unter sehr eigenartigen Bedingungen auf der Insel gelandet. Durch einen Schiffbruch seiner Mutter gelangte er auf die Insel, wo er und sein Bruder geboren wurden und anschließend, nach dem Mord an ihrer Mutter, bei einer mysteriösen Frau aufwuchsen. Er wurde schließlich zu einem jungen Mann, der die Insel als sein alleiniges Zuhause kennenlernte. Weder verspürte er den Drang, nach neuen Welten zu forschen, noch wollte er wissen, wo er herkam. Er sah sein Schicksal auf der Insel, ganz wie seine Ziehmutter es ihm all die Jahre beibrachte. So zögerte er nicht lange und band sich selbst an die Insel und an ihr Geheimnis. Sein Bruder hingegen, wesentlich neugieriger als er, war damit nicht zufrieden und suchte nach dem Unbekannten. Doch er konnte Jacob und der Insel nicht entfliehen. Selbst im Tod konnte er nicht frei sein - seine Seele war auf der Insel gefangen. Er hatte keine Wahl, wie Jacob sie vielleicht gehabt hätte, welche er jedoch nicht nutzen wollte.

Das zweite zentrale Thema der Serie, der freie Wille, wurde für den Mann in Schwarz zu einem hohen Gut. Er selbst hatte ihn nie wirklich erfahren können und doch war es das, was er sich über alles wünschte. Sich frei bewegen. Frei entscheiden können. Einfach frei sein.

Inwiefern hatten die Überlebenden von Flug 815 aber nach dem Absturz noch die Möglichkeit, frei zu wählen? Als viele von ihnen Ende der vierten Staffel die Möglichkeit hatten, die Insel zu verlassen, schafften es nur sechs von ihnen, sie tatsächlich hinter sich zu lassen, kehrten jedoch allesamt nur kurze Zeit später wieder zurück. Auch Sawyer und Juliet hatten in der fünften Staffel die Möglichkeit, zu fliehen, blieben jedoch auf der Insel. Es war ihr freier Wille, dort ihr Leben neu zu ordnen.

Jacob brachte sie alle auf die Insel, er hielt sie dort und hinderte sie daran, nach Hause zurück zu kehren. Er machte sie unfreiwillig zu Kandidaten, die seinen Posten übernehmen sollten, ohne dass auch nur einer von ihnen davon wusste oder die Möglichkeit hatte, sich dem Auswahlverfahren zu entziehen. Und doch am Ende entschloss sie Jack freiwillig Jacobs Platz einzunehmen, sich an die Insel zu binden und wenn nötig, auch in den Tod zu gehen. Auch Hurley entschloss sich freiwillig die Aufgabe von Jack zu übernehmen und selbst Ben beschloss, freiwillig bei Hurley zu blieben, und ihm dabei zu helfen, die Insel zu beschützen. Obwohl gerade diese drei keine andere Wahl hatten und schon früh absolut erkenntlich war, dass ihr Schicksal die Insel war und diese sie nicht loslassen wollte, entschlossen sich alle freiwillig, zu bleiben.

Freier Wille gegen Vorbestimmung. Das zentrale Thema in "Lost" blieb am Ende ohne Sieger. Hatte das Schicksal die Männer und Frauen auch auf die Insel geführt, so waren es am Ende meist die Entscheidungen, die sie trafen, die sie auf der Insel hielten. Doch sind die Entscheidungen, die sie treffen am Ende nicht auch vorherbestimmt? Diese Diskussion lässt sich wohl noch endlos lange führen, ohne dass man zu einem Ergebnis kommt.

Melanie Wolff - myFanbase

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