Review: #1.02 Crush-Syndrom
Die zweite Episode von "Marvel's Jessica Jones" schaltet nach dem spektakulären Piloten mit dessen schockierendem Ende einen Gang zurück und bietet uns die Möglichkeit, uns langsam und Schritt für Schritt in der Geschichte einzufinden. Wir konzentrieren uns hier fast ausschließlich auf den Handlungsstrang rund um Jessicas Versuche, mehr über Kilgrave und dessen Verbleiben herauszufinden. Nachdem man in der ersten Folge noch Jessicas Leben in allen Facetten beleuchtete, ihre Beziehungen zu den wichtigsten Menschen in ihrem Leben andeutete, beziehungsweise ihre Versuche, diesen Menschen aus dem Weg zu gehen, widmet man sich hier aber nur Jessicas lange bestehender Freundschaft zu Trish, und ihrer neu entstehenden Verbindung zu Luke Cage.
Aber all dies ist mit der großen Frage nach Kilgrave verbunden. Der ist hier, abgesehen von den letzten Momenten der Folge, weniger präsent als im Piloten, die bereits zuvor gesehenen Erinnerungsfetzen von Jessica tauchen nur in zwei Augenblicken auf, wobei einer davon ganz klar dazu dient, dem Zuschauer Informationen zukommen zu lassen, während der andere mehr Jessicas Gefühlsleben illustriert.
Meine Sorgen um die Geschichte rund um Kilgrave und dessen Methode, seinen Opfern jeglichen freien Willen zu nehmen, sind natürlich nach nur zwei Folgen noch nicht beseitigt. Aber ich bin weiterhin beeindruckt, wie man dieses Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit seiner Opfer demonstriert. Einerseits, in dem man hier weitere Demonstrationen der Macht und der Skrupellosigkeit Kilgraves findet, die nichts mit Sex zu tun haben. Außerdem sind seine Opfer hier nicht nur Frauen, es trifft einen Krankenwagenfahrer, den Kilgrave dazu zwang, beide Nieren zu spenden, und einen Arzt, der diese Operation bei Kilgraves vollem Bewusstsein durchführte. Und am Ende der Folge nimmt Kilgrave eine ganze Familie als Geiseln und lebt seine sadistischen Triebe ohne Skrupel an deren kleinen Kindern aus. Das klingt jetzt auf dem Papier natürlich wieder sofort nach Pädophilie (was Erschreckendes über unsere Kultur aussagt, wenn wir bei Qualen an Kindern immer sofort in diese Richtung denken), aber man bleibt sich weiterhin treu und demonstriert dem Zuschauer, dass seelische Folter auf so vielen unterschiedlichen Ebenen erfolgen kann. Man kann hier soviel hineininterpretieren, in den Zustand unserer Gesellschaft, in der sich Frauen (Menschen) einreden, durch ein funktionierendes Schloss sicher zu sein, während Jessica erkannt hat, dass diese Sicherheit nur eine Illusion ist. Wahre Verletzlichkeit kann man nicht durch Kraft und Gegenwehr vermeiden, denn wenn der Täter aus dem persönlichen Umfeld kommt und einen gut kennt, hat man mit dem, was man sonst so unter Gegenwehr versteht, kaum eine Chance. Dass die Umsetzung dieser komplizierten und heiklen Thematik bisher so gelingt, hat sicher auch damit zu tun, dass wir es mit einer weiblichen Showrunnerin, einer Frau auf dem Regiestuhl und natürlich auch mit Jessica Jones einzigartiger Perspektive, durch die wir die Geschichte erleben. Ich bin mir sicher, dass sowohl Melissa Rosenberg, als auch S.J. Clarkson und Krysten Ritter ihre eigene Sicht auf die Welt mit einbringen und machen die Serie so interessanter und vielfältiger.
Dass Jessica, als Frau die über außergewöhnliche Kräfte verfügt, diese Erkenntnis für sich gewonnen hat, verstärkt diesen Effekt noch einmal. Sie kämpft hier vor allem dagegen an, Trish wieder an sich heran zu lassen, weil sie diese gefährden könnte, aber es wird auch klar, dass sie ihre Freundin dringender braucht, als sie es zugeben möchte. Die Freundschaft der beiden entwickelt sich gerade zu einer absoluten Stärke der Serie, sie fühlt sich nach diesen wenigen Szenen bereits sehr real an und ich bin sehr froh, dass man ihr zum jetzigen Zeitpunkt so viel Raum einräumt.
Das inhaltliche Augenmerk liegt freilich auf Jessicas Untersuchungen der Spuren Kilgraves. Wir erfahren, dass dieser einmal einen Busunfall verursacht hat, bei dem eine junge Frau starb und der so wie es in dem kurzen Flashback aussah, von Jessicas Flucht vor ihm ausgelöst wurde. Dabei wurde Kilgrave selbst verletzt, hat zwei Nieren verloren und musste den oben erwähnten Arzt zur geheimen OP zwingen. Über den Arzt erfährt Jessica von Kilgraves Schwachstelle, dass er unter dem Einfluss einer Vollnarkose seine Macht über die Menschen verliert. Zunächst benötigt Jessica all diese Informationen aber nicht, um Kilgrave endgültig zur Strecke zu bringen, das wäre in Folge zwei der Staffel ja doch etwas zu früh, sondern um die Anwältin Jeri Hogarth davon zu überzeugen, dass sie den hoffnungslos wirkenden Fall von Hope übernimmt. Dies gelingt ihr am Ende auch und Jeri nimmt sich Hope an.
Noch kein Wort habe ich in meinen Reviews bisher über David Tennant als Kilgrave verloren, was ich hier aber endlich nachholen will. Es ist für mich wenig überraschend, dass Tennant in seinen kurzen Auftritten, oftmals allein über seine Stimme, wirklich furchteinflößend und überzeugend böse wirkt. Mir als glühende Verehrerin des zehnten Doctors blutet zwar ein wenig das Herz, ihn in einer derart sadistischen Rolle zu sehen. Gleichzeitig ist es aber auch sehr faszinierend und ich bin vor allem dankbar, dass man ihm seinen britischen Akzent gelassen hat, im Gegensatz zu seinem letzten Ausflug ins US-Fernsehen.
Ein weiteres großes Fragezeichen liegt in dieser Episode auf Luke Cage. Dass Jessicas Flirt mit ihm kein Zufall war, wissen wir als Zuschauer. Und ihre Erklärungen der Polizei gegenüber (übrigens, Hallo Lester Freemon!) ergeben auch so viel Sinn, dass man sie zunächst nicht hinterfragt. Aber dann erfahren wir von Lukes Geliebter, deren Ehemann angeblich Jessica auf Lukes Spuren brachte, dass diese Geschichte eine Lüge ist und man fragt sich weiterhin, was Jessica von ihm will. Dass Luke selbst ein Superheld ist (der Begriff erscheint mir hier in dem Umfeld allerdings total unpassend, er trifft weder auf Jessica noch auf Luke zu, aber immer "Mensch mit übernatürlichen Eigenschaften" zu schreiben ist irgendwie auch umständlich), überrascht Jessica dann aber doch sehr und wir wissen nun auch, welche besondere Fähigkeit Luke besitzt. Er ist unverwundbar und demonstriert dies Jessica ziemlich eindrucksvoll (auch wenn ich mich frage, warum diese ausgerechnet eine Flex-Maschine auf ihrer Kommode liegen hat). Für Jessica ist dies ebenso eine Überraschung wie für uns, aber wieso hat sie ihm denn nun hinterher spioniert? Wieso hat sie sich überhaupt auf dessen Fährte begeben, wenn sie doch nicht wusste, dass er etwas Besonderes ist? Diese Fragezeichen bleiben weiter bestehen, auch wenn wir durch diese Folge sicher sein können, dass das Intermezzo von Jessica und Luke nicht nach ihrem One Night Stand aus der letzten Folge beendet ist.
#1.02 Crush-Syndrom ist eine sehr gelungene zweite Episode, die die gute Vorarbeit des Piloten nahtlos fortsetzt. Das Tempo wird etwas herausgenommen und die Noir-Elemente werden etwas dezenter eingesetzt als in #1.01 Ladies Night, was der Stimmung und der Spannung aber keinen Abbruch tut. Man kann weiterhin mit einer großartigen Hauptdarstellerin, einer realistischen Atmosphäre, die in den entscheidenden Momenten ins beklemmend Horrorhafte wechselt, punkten. Aber euch kleine Humormomente, wie Jessicas gute Kenntnisse von zeitgenössischen Krankenhausserien und Lukes Gesichtsausdruck während des Barkampfs sorgen kurzzeitig für Auflockerung, so dass das Endergebnis absolut stimmig ist.
Cindy Scholz - myFanbase
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Diskussion zu dieser Episode
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Informationen zur Episode
Englischer Titel: AKA Crush SyndromeErstausstrahlung (US): 20.11.2015
Erstausstrahlung (DE): 20.11.2015
Regie: S. J. Clarkson
Drehbuch: Micah Schraft
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