Review: #1.04 99 Freunde
Nach der ereignisreichen letzten Folge mit dem erstmaligen direkten Auftreten des von David Tennant gespielten Kilgraves und der Enthüllung, dass Kilgrave Jessica bereits seit geraumer Zeit durch einen Fotografen auf Schritt und Tritt verfolgt, geht es in dieser Episode grundsätzlich darum, die Scherben aufzusammeln und wieder neu zusammen zu setzten. Jessica ist in dieser Hinsicht von einer bemerkenswerten Zielstrebigkeit beseelt, die es ihr ermöglicht den Blick strickt nach vorne zu richten, um ihr übergeordnetes Ziel der Eliminierung und der für sie damit verbundenen Befreiung von den Fesseln Killgraves, zu erreichen.
Es muss also weiter gehen, auch wenn das Gefühl der ständigen Paranoia für Jessica jederzeit greifbar ist und versucht ihr den Verstand zu rauben. Um eine irgendwie geartete Struktur in ihr Leben zu bekommen, nimmt sie einen neuen Fall an, bei dem es wie üblich in der Branche der Privatermittler, um ein mögliches Fremdgehen, in diesem Fall des Ehepartners, geht. Der Fall an sich und vor allem auch die Auflösung, sind dabei gar nicht so wichtig und interessant, sondern eher der Umstand, wie Jessica mit dem ständigen Gefühl zu kämpfen hat, dass jede neu auftauchende unbekannte Person in ihrem Leben eine Abgesandte Killgraves sein könnte und ihr Leben so durch eine permanente Angst- und Unsicherheitserfahrungen geprägt ist, gegen die sie offensiv mit aller Gewalt ankämpft.
Im Mittelpunkt der Folge stehen aber verschiedene Arten von Traumaverarbeitung und im Fall von Jessica das Ankämpfen gegen eine simplifizierende Psychologisierung. Um die schwer in eine juristische Verteidigung zu integrierende Geschichte von einem Gedankenmanipulator zu stärken und glaubhaft erscheinen zu lassen, werden von Jeri Hogarth als Hopes Verteidigerin verschiedene Leute eingeladen, die scheinbar kurzfristig oder auch über einen längeren Zeitraum unter der Kontrolle von Kilgrave standen. Aus diesem Verhör entsteht zunächst eine komödiantisch anmutende Montagesequenz, die aber schnell in ein Gefühl tiefer Beunruhigung kippt, als deutlich wird, wie viele verschiedene Menschen Kilgrave zu teils banalen Zwecken manipuliert hat. Es entsteht schließlich ein kleiner Kreis von Menschen, die sich Kilgraves Macht ausgesetzt sahen und die nun versuchen im Kollektiv dieses erlittene Trauma gemeinsam zu verarbeiten.
Jessica war zwar der Initiator dieser Gruppierung, steht als einzelne Person aber außen vor und zieht nur einen funktionalen Nutzen aus den Erfahrungsschätzen der anderen Gruppenmitglieder. So gibt ihr eines dieser Mitglieder den entscheidenden Hinweis, der schließlich zur großen Offenbarung der Folge führt und Jessicas Nachbarn Malcolm zu einer zentralen Figur in Kilgraves Spiel werden lässt. Jessica wählt also eine ganz spezielle, offensive und pragmatisch wirkende Art, mit den Schrecken ihrer Vergangenheit umzugehen. Sie blickt nach vorne, hangelt sich von einem Indiz zum nächsten, bleibt äußerlich kontrolliert und versucht den Gefühlen der Paranoia und Angst stets einen Schritt voraus zu sein. Sie kommt dabei zwar immer wieder ins Wanken, kann den Sturz aber bisher noch vermeiden.
Eine weitere Person, die versucht ein Leben nach dem Trauma zu führen, ist Trish, die in der letzten Folge erneut Grausames durchstehen musste und in dieser zusätzlich noch den erniedrigenden Akt durchleiden muss sich bei ihrem, Jessicas und Hopes Peiniger zu entschuldigen, damit sie selbst aus dem Schussfeld gerät. Das ist schmerzhaft anzusehen, aus strategischer Sicht in diesem Moment aber wohl durchaus als sinnvoll zu erachten. Darüber hinaus entwickelt sich überraschend noch eine Freundschaft zwischen Trish und dem Polizist Will Simpson, der ihr unter dem Einfluss Kilgraves in der letzten Folge noch nach dem Leben getrachtet hat. Auch hier wird wieder versucht gemeinsam das erlittene Grauen zu verarbeiten und sich so gegenseitig langsam wieder aufzurichten. Es kann nicht oft genug erwähnt werden, wie gut es den Autoren gelingt, glaubhaft die Rückwirkungen der Gräueltaten Kilgraves greifbar zu machen. Die psychischen Schäden, die überall lauernde Paranoia und der Kampf um Klarheit und den eigenen Verstand sind zentrale Elemente einer Serie, in der das Vorantreiben des Plots genauso wichtig ist, wie die ausführliche Beschäftigung mit dem Seelenleben aller Figuren.
David Tennant taucht in dieser Folge als Person wieder nicht direkt auf, sondern wird erneut nur durch seine monströsen Taten sichtbar: So schreckt er selbst nicht vor der Instrumentalisierung eines Kindes zurück und macht so erneut deutlich, dass er nahezu unberechenbar ist und überall, an jedem Ort, in der Personifizierung fast jedweder Gestalt auftauchen kann. Es wird gleichzeitig aber auch eine weitere Schwäche Kilgraves sichtbar, und zwar seine überbordende Egozentrik und Arroganz, in dem er auf die fingierte Entschuldigung Hopes sofort anspringt. Eine weitere, für den Fortlauf der Handlung sicher noch wichtiger werdende Erkenntnis in Bezug auf Kilgrave ist auch jene, dass seine Gedankenmanipulationen allem Anschein nach nur zehn bis zwölf Stunden anhalten und dann in irgendeiner Form abklingen, was die Frage aufwirft, wie lange er Jessica tatsächlich unter seiner Kontrolle hatte und ob sich die Manipulation nach dem Abklingen immer wieder erneuern lässt.
Zuletzt soll noch kurz auf kleinere Nebensächlichkeiten eingegangen werden. So gewinnt Jeri Hogarth immer weiter an Profil, wenn auch nicht gerade im positiven Sinne. Sowohl ihr Kommentar über die Nutzung von Kilgraves Fähigkeiten im Sinne ihrer eigenen Interessen, als auch ihr Verhalten in ihrem Beziehungsleben lassen weiterhin nicht auf einen sehr emphatischen Charakter schließen. Es gelingt aber gut, langsam das Mysterium Jeri Hogarth weiter zu ergründen, indem man Folge zu Folge immer weitere kleine Eindrücke und Informationsfetzen erhält. Weiterhin sehr interessant ist auch die Darstellung von Jessicas Superkräften, die immer nur beiläufig und sehr funktional eingesetzt werden und so nur kurz daran erinnern, dass man es hier eigentlich im Kern mit einer Superheldenserie zu tun hat. Das Highlight war in dieser Hinsicht sicher Jessicas gewitzte Überwachungstechnik, in der sie sich problemlos mit einer Kamera zwischen zwei Häuserwände klemmte. Durch die Auflösung des abgeschlossenen Falls der Woche wurde auch mal wieder kurz eine Brücke zum Marvel Cinematic Universe geschlagen, in dem direkt Bezug genommen wurde auf die Schlacht von New York im ersten "Avengers"-Film. Etwas merkwürdig mutet hier nur der Umstand an, dass weitere Superhelden, wie der Hulk oder Captain America, nie direkt, sondern nur in Form umständlicher Beschreibungen erwähnt werden.
Die vierte Folge von "Jessica Jones" kommt schlussendlich sicher nicht an die ereignisreiche und vergleichsweise actionlastige dritte Folge heran, treibt die Handlung aber konsequent weiter voran und leistet essentielle und komplexe Charakterarbeit. Immer deutlicher wird auch, dass diese Serie, ähnlich wie auch schon "Daredevil" kaum episodisch angelegt ist, sondern alle Folgen nur kleine Bruchstücke der übergreifenden Gesamterzählung sind und so das von Netflix gewünschte Binge-Watching anregen. So endet diese Folge mit der Enthüllung Malcolms als Spion Kilgraves auch mit einem Cliffhanger, der einen geradezu zum direkten Weiterschauen zwingt.
Moritz Stock - myFanbase
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Diskussion zu dieser Episode
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Informationen zur Episode
Englischer Titel: AKA 99 FriendsErstausstrahlung (US): 20.11.2015
Erstausstrahlung (DE): 20.11.2015
Regie: David Petrarca
Drehbuch: Hilly Hicks, Jr.
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