Intimacy
Neulich auf einer Party: Eine Freundin, die sich im letzten Moment noch auf der Tanzfläche ausgetobt hatte, verließ selbige erhitzt und mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. In meine Richtung laufend, griff sie sogleich zu ihrem Getränk, das sie neben mir abgestellt hatte, nahm einen tiefen Schluck, beugte sich zu mir herüber und schrie: "Ey – wer singt das?" Der Titel, zu dem sie kurz vorher noch ausgelassen ihr langes Haar schüttelte, hieß "Kreuzberg" und fühlt sich auf dem genialen zweiten Album "A Weekend In The City" der Londoner Band Bloc Party heimisch. Sowas soll es immer wieder geben. So gestand mir besagte Freundin, dass sie bereits so manche Nacht zur Musik der vier East Londoner zum Tage machte, aber nie in Erfahrung bringen konnte, wem sie ihre durchgetanzten Schuhsohlen eigentlich zu verdanken hatte.
Die Antwort also lautet Bloc Party: Das sind Kele Okereke, Gordon Moates, Russell Lissack und Matt Tong. Jene Jungs, die seit 2004 mit Liedern, die in gleichermaßen außergewöhnlichen, wie auch gewöhnungsbedürftigen Kleidern daherkommen, aufzuwarten wissen. Frontmann Kele Okereke nimmt auf ihnen nicht das kleinste Blatt vor den Mund. Das kann den Hörer einerseits über alle Maßen beglücken, andererseits – je nach Dicke des jeweiligen Nervenkostüms – nahezu verstören. Aus der Tatsache, dass sämtliche Bandmitglieder wahrlich nicht aus der reichsten, schönsten oder gar sichersten Gegend Englands stammen, ist bekannt und Okereke macht keinen Hehl aus ihr: "We dance to the sound of sirens" gibt er auf dem Opener "Ares" von sich und hinterlässt ein beklemmendes Gefühl. "When I saw you last night, I wanted to say 'Run away with me – away from the cynics. That this could be the start of something truly real.' But all that I could say was 'Hey'", heißt es in der ersten Single "Mercury".
Dass im bandinternen Mikrokosmos nicht nur kritisiert, proklamiert und (zu Recht) politische Missstände angeprangert werden, beweisen die Jungs mehr als eindrucksvoll auf "Biko", das auf einer Skala an Aufrichtigkeit und Tiefgang von 1 bis 10 mühelos an die 11,5 reichen würde. Okereke scheut sich nicht, auch überaus Persönliches wie den Tod eines geliebten, an Krebs verstorbenen Menschen zu thematisieren und auch nicht davor, den Hörer auf diese Weise über das oberflächliche Liederlauschen hinaus zu zwingen: "Was my love not strong enough to bring you back from the dead? If I could eat your cancer I would, but I can't. So I keep writing these songs for you to steal you from your grey [...] I need you be strong for us." All das geschieht auf fünf Minuten in einer Intensität, die wohl glaubwürdiger nicht sein könnte. Wer über ein nicht allzu dickes Fell verfügt, erwartet von einem leichten Anflug von Gänsehaut über den berühmten Klos im Hals bis hin zu ehrlichen Tränen lieber alles.
Auch über dem folgenden "Trojan Horse" schwebt das Tantra des Abschieds ("You used to close your eyes when we kissed goodbye. You didn't want to see me draped in sadness."). Im Anschluss setzt "Signs" dann genau dort an, wo kurz vorher in "Biko" aufgehört wurde: "You never wanted to alarm me, but I'm the one that's drowning now. [...] At your funeral, I was so upset, so upset. In your life you were larger than this statuesque [...] I see signs now all the time that you're not dead. You're sleeping! – I believe in anything that brings you back home to me." Wen das nicht rührt, ist klinisch tot – anders ließe es sich nicht erklären. Auf ebenso hohem emotionalen Niveau geht es weiter: Das mit imposant mit Chor ausgestattete "Zephyrus" ist ein Gesamtkunstwerk auf Bloc Partys drittem Gesamtkunstwerk, und auch "Better Than Heaven" weiß analog zu Goethes These "Mit dem Wissen wächst der Zweifel" zu überzeugen ("What's with all this doom and gloom? [...] You get sadder the smarter you get."). Das hierher aufwühlende Album schließt "Ion Square" mit einer feinsinnigen Liebeserklärung an whoever, die in schlichter Schönheit alles sagt, was es zu sagen gibt: "The space between us has disappeared: You finish my, you finish my words for me [...] If we could stay like this in a silver foil. [...] I carry your heart here with me, I carry it in my heart. Who said unbroken happiness is a bore, is a bore? Who said it, my love? I don't mind it anymore, anymore." Schluss, aus. Danke, himmlisch.
Fazit
Insofern war ich froh, Licht in das musikalische Dunkel meiner Freundin gebracht zu haben, denn Bloc Party haben unbestritten sehr (!) viel mehr zu bieten als reine Feiermusik. Wenngleich sie sich unter anderem aufgrund ihrer vertrackten treibenden Beats und zwingenden Melodien auch als solche hervorragend eignet, zuweilen allerdings in ihrer Komplexität verkannt und unterschätzt wird. Was bleibt, ist die Pflicht, sich vor dem Londoner Quartett zumindest gedanklich ganz tief zu verneigen. Sie schenken uns mit "Intimacy" ein großes Stück Musik; werfen uns zehn Perlen vor die Füße, die einerseits kantig wirken und ungeschliffen wie Rohdiamanten. Auf der anderen Seite präsentieren sie sich unheimlich ausgefeilt, durchdacht und als schlichtweg runde Sache. Noch immer unbändig und wild klingt das dritte Album, drängend und zügellos. Man kann Bloc Party gar nicht ausgiebig genug zu ihrem erfrischend eigenen Stil beglückwünschen – und zu dem Mumm, textlich an so manche Grenze zu gehen. Ohne Kompromisse setzen Bloc Party ein gewaltiges Ausrufezeichen in Form ihres großartigen dritten Werkes, welches sich jeden seiner satten neun von neun Punkten redlichst verdient. Denn dieses Album ist näher dran an einer kleinen Sensation, als an sehr, sehr gutem Durchschnitt.
Anspieltipps
Biko
Signs
Zephyrus
Ion Square
Artistpage
Tracks
1. | Ares | |||
2. | Mercury | |||
3. | Halo | |||
4. | Biko | |||
5. | Trojan Horse | |||
6. | Signs | |||
7. | One Month Off | |||
8. | Zephyrus | |||
9. | Talons | |||
10. | Better Than Heaven | |||
11. | Ion Square |
Aljana Pellny - myFanbase
22.10.2008
Diskussion zu dieser CD
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (DE): 24.10.2008Genre: Rock, Independent
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