Jewellery
Keine Angst, hierbei handelt es sich nicht etwa um die singende Verwandtschaft des auffallend ähnlich klingenden Pokémons aus der gleichnamigen Anime-Serie. Hinter dem Künstlernamen "Micachu" verbirgt sich die 21-jährige Engländerin Mica Levi, die zusammen mit Drummer Marc Pell und Raisa Khan am Keyboard (besser bekannt als "The Shapes") eines der eher schwerer zugänglichen, aber dennoch vielversprechendsten Debütalben des Jahres abgeliefert hat.
Während anderswo noch spekuliert wird, ob die diesjährige Krone für die beste britische Nachwuchskünstlerin dem singenden 80er-Revival-Rotschopf Elly Jackson oder der Lungenflügelakrobatin Florence Welch gebührt, hat ein überschaubarer Kreis an Indie Electronic-Anhängern diese Auszeichnung längst anderweitig vergeben. Mica Levi heißt die junge Dame, die fernab des Mainstream-Rummels Fans und Kritiker gleichermaßen zu begeistern weiß – und das, obwohl ihr Gesang weder besonders weiblich klingt noch als schön im klassischen Sinn bezeichnet werden kann.
Das Geheimnis von Mica Levis' Erfolg liegt vielmehr in ihrer verspielten Art, mit der sie aus schrägen Elektrofunk-Tönen, Staubsaugergeräuschen, Kochtopfgetrommel und Tetris-Melodien eigenwillige Musik kreiert, die z.T. auch noch bewusst falsch klingt. Das hört sich verrückt an? Ist es auch! Aber es funktioniert ganz wunderbar, sofern man bereit ist, sich auf dieses außergewöhnliche Klangexperiment einzulassen.
Der Einstieg wird einem allerdings nicht leicht gemacht, denn bereits beim Opener "Vulture" verpasst Micachu dem ahnungslosen Hörer eine volle Breitseite an chaotisch anmutendem Geklimper und nahezu unverständlichem Gesang. Einzig der eindringliche Refrain ("You can’t eat me, I’m still not dead. / You can’t beat greed, it’s confident.") lässt erahnen, welch seltsamen Dialog die Sängerin da mit besagtem Aasgeier führt. Wer allerdings bis zum Ende des Liedes durchhält, ohne schlagartig die Flucht zurück zum glatt polierten Radiopop zu ergreifen, wird unverzüglich mit den ersten Highlights belohnt.
Während sich im flotten Anderthalbminüter "Lips" alles um einen notorischen Lügner dreht, von dem Mica Levi trotz offensichtlicher Charakterschwäche einfach nicht die Finger (und Lippen) lassen kann, gewährt die Engländerin im nicht minder rasanten 50-Sekünder "Sweetheart" erstmals einen Einblick in ihre Zukunftspläne bis hin zum "fast fun death in 20 years". Dieses Selbstporträt wird später während der zwei wohl bekanntesten und zugänglichsten Micachu-Songs, "Golden Phone" und "Just In Case", komplettiert. Hier präsentiert sie sich nämlich noch als trotzige Weltverbesserin ("Crimes everywhere, yeah, but I don’t want that."), sturköpfige Anti-Trendsetterin ("Gold in my hair, yeah, but I don’t want that.") und übervorsichtige Prinzipienreiterin ("And I won’t have sex coz of STDs.").
Rechtzeitig zur Albummitte ist die Gute-Laune-Orgie dann voll im Gang und Michacu schüttelt einen Kracher nach dem nächsten aus dem Ärmel. Besonders hervorgehoben werden muss "Eat Your Heart", wo man eine Hals über Kopf verliebte Protagonistin zu hören bekommt. Ihr Objekt der Begierde – oder zumindest eines seiner lebenswichtigen Organe – hat sie dabei sprichwörtlich zum Fressen gern ("Well, I can feel you’re miles away. / And your large heart melts my brain. / Yeah, I could eat your heart.") und teilt dies im ansteckenden Refrain auch ungeniert mit. Getoppt wird dieses Lied lediglich noch durch den Versuch, die Partystimmung durch eine Partie "Schiffe versenken" weiter aufzulockern. Bewaffnet mit einer Laserpistole und entsprechenden Klangelementen sagt Micachu in "Ship" ihrem Gegenüber schonungslos den Kampf an, worauf dieser mit schizophrenen Parolen kontert ("All aboard, all aboard! Actually, no, no! Abandon ship, abandon ship!") und letztlich frustriert resigniert. Tja, gegen diese Frau hat eben so schnell keiner eine Chance!
Doch Micachus Fete steht längst nicht nur unter dem Motto "Friede, Freude, Eierkuchen". Während am Ende von "Calculator" schon erste dunkle Wolken am Beziehungshimmel aufziehen ("Consider this your final kiss, coz after this you are dismissed."), erlebt man im hinteren, deutlich ruhigeren Drittel des Albums eine sichtlich angeschlagene Mica Levi. Der Beginn von "Wrong" klingt so, als hätte die Sängerin aus Frust erst einmal ihren gesamten Vorrat an Kopftöpfen und Pfannen auf den Küchenboden fallen lassen, nur um dann wild darauf herumzutrommeln und auf diese Art ihrem Ex nachzutrauern. In "Floor" werden die Habseligkeiten des Verflossenen dann auf dem Schlafzimmerboden ausgebreitet und mit einem beherzten Sprung vom Bett kurz und klein getrampelt.
Die letzten beiden Lieder sind dann von einer unverkennbaren Katerstimmung geprägt. Bei "Turn Me Well" packt die Sängerin erst einmal den Staubsauger aus und beseitigt damit nicht nur die Überreste der Party sowie die Scherben ihrer Beziehung, sondern gleich auch noch die letzten Zweifel der Hörer an Micachus Wandlungsfähigkeit. Entlassen wird man schließlich mit "Guts" und einer gehörigen Dosis an falsch gezupften Gitarrensaiten, die das flaue Gefühl im Magen nach einer durchzechten Nacht besser nicht widerspiegeln könnten. Und während man als Ersthörer nun vermutlich froh ist, dieses Klangexperiment ohne gröbere Blessuren überstanden zu haben, kommt der Wiederholungstäter nur mehr schwer los von Micachus unvergleichlichem Sound.
Fazit
Beim radioverwöhnten Durchschnittshörer wird das Debüt von Micachu vermutlich nur eine Reaktion hervorrufen, nämlich Kopfschütteln und/oder -schmerzen. Wer es allerdings wagt, hinter die schräg-chaotische Fassade dieses Albums zu blicken, wird mit einer bunten Ohrwurmsammlung belohnt, die ihresgleichen sucht. Den Albumtitel hat Mica Levi nämlich nicht ganz ohne Hintergedanken gewählt: "Jewellery" entpuppt sich mit der Zeit tatsächlich als wahres Schmuckstück. Da fällt es auch nicht schwer, am Ende von "Wrong" lauthals in das vorweggenommene Albumfazit einzustimmen: "That’s a keeper! That’s a keeper!"
Anspieltipps
Lips
Eat Your Heart
Ship
Calculator
Tracks
1. | Vulture | |||
2. | Lips | |||
3. | Sweetheart | |||
4. | Eat Your Heart | |||
5. | Curly Teeth | |||
6. | Golden Phone | |||
7. | Ship | |||
8. | Floor | |||
9. | Just In Case | |||
10. | Calculator | |||
11. | Wrong | |||
12. | Turn Me Well | |||
13. | Guts | |||
14. | Hardcore (hidden track) |
Willi S. - myFanbase
17.09.2009
Diskussion zu dieser CD
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (DE): 27.03.2009Genre: Experimental, Independent
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