Hospice
"Hospice" ist der außergewöhnliche Soundtrack zu einem ganz besonderen Film. Nämlich jenem Film, den die verheerende Geschichte, die das Album erzählt, vor dem inneren Auge eines jeden aufmerksamen Zuhörers ablaufen lässt.
Dies wiederum ist ein Film, bei dem wohl der ein oder andere sichtlich verstört vorzeitig den Kinosaal verlassen oder gar einnicken würde, nach dem die überwältigende Mehrheit jedoch noch lange nach Ende des Abspanns ergriffen in ihren Sesseln verharrt, völlig sprach- und fassungslos angesichts der grenzenlosen Schönheit und Tragik, derer sie soeben Zeuge geworden ist. Selbst die härtesten Männer vermag er im tiefsten Kern zu erschüttern und hinterlässt so manche Wangen gezeichnet von Tränen, die an irgendeinem Punkt unbemerkt geflossen sein müssen.
Dabei werden in jedem Kopfkino etwas andere Bilder vorgeführt, denn Drehbuchautor Peter Silberman ist ein Meister der Zweideutigkeit, der die Grenzen zwischen Traum und Erinnerung, Realität und Sinnbildlichkeit immer wieder auf wundervolle Weise zu verwischen weiß. So ist nie so ganz klar, wer genau da nun zu wem spricht, geschweige denn wovon, so dass das Publikum ganz in Eigenregie Schnitte setzen und nach Belieben Szenen- oder Perspektivwechsel vollziehen darf. Auch wenn die jeweiligen Film-Versionen eines jeden Einzelnen im Endeffekt also sehr unterschiedlich ausfallen mögen, scheinen die Grundpfeiler der Handlung und auch die allgemeine Dramaturgie in jedem Director's Cut dieselben zu sein. Denn immer steht die marternde Beziehung zweier Menschen im Mittelpunkt: die Beziehung zwischen dem namenlosen Ich-Erzähler und Sylvia, einer Todkranken, die dieser beim Sterben begleitet.
Schon im Vorspann, dem sphärisch-melancholischen "Prologue", wird einem die trostlose Hoffnungslosigkeit dieser Geschichte schonungslos vor Augen und Ohren geführt. Und trotzdem will und kann man sich von dieser betörenden Schwermut nicht losreißen, sondern ist vielmehr völlig gebannt von ihrem melodischen Rauschen und dem allmählich anschwellenden Klagegesang des Chors, die einem innerhalb von nur zweieinhalb Minuten das Herz zu brechen drohen. Doch diese Aufgabe übernimmt letztlich das direkt folgende "Kettering". Denn spätestens wenn das lyrische Ich, begleitet von kummervollem Klavierspiel, treu und tapfer am Krankenbett sitzt und sich vor der Wahrheit versucht zu sträuben ("I didn't believe them when they told me that there was no saving you"), brechen alle Dämme. Verzerrte Gitarren sowie unruhige Drums und Effekte verkörpern dabei die brodelnde Verzweiflung, das innere Ringen und die emotionale Aufgewühltheit der beiden Protagonisten.
Doch auch wenn "Sylvia" offenbar schon allen Lebensmut verloren zu haben scheint und die Welt bloß noch durch die depressiven Augen ihrer Namensvetterin Sylvia Plath sieht, gibt der Erzähler nicht auf. Als alles Flehen nichts hilft ("Please, please calm down... Let me do my job."), versucht er, sie durch die Macht der Wut und Verzweiflung aus ihrer Apathie zu reißen ("Sylvia, get your head out of the oven. Go back to screaming and cursing, remind me again how everyone betrayed you."). Denn ihr Herz schlägt noch. Und wie es schlägt. Schön gleichmäßig im Takt zu den Staccato-Akkorden auf dem Piano und völlig im Einklang mit den shoegazeartigen Noisewänden sowie den ach so lebens- und liebenswerten Trompeten, die auf dem Gipfel der Gefühlsausbrüche thronen.
Doch es hilft alles nichts. Die Unausweichlichkeit ihres Schicksals zermürbt letztlich nicht nur die unheilbar kranke Patientin selbst ("Thirteen"), sondern auch den "eulogy singer", der hilflos an ihrem Bett harrt und dabei am liebsten selbst an ihrer Stelle wäre, wie er im nachdenklichen "Atrophy" so herzzerreißend bekundet: "I'd happily take all those bullets inside you and put them inside of myself". Im Zustand dieser gellenden Ohnmacht, drängen in den erstaunlich beschwingt wirkenden "Bear" und "Two" schmerzliche Erinnerungen und Albträume an die Oberfläche des Unterbewusstseins, die mal wieder ganz unterschiedliche Bilder auf die innere Leinwand des außenstehenden Publikums projizieren. Denn da sind sie wieder, die kryptischen Anspielungen und rätselhaften Metaphern, die es einem unmöglich machen, in der geheimnisvollen Welt der Träume und Halluzinationen, tatsächliche Begebenheiten von den wirren Gedankenfantasien ihres gepeinigten Erzählers zu unterscheiden.
Als das Unvermeidbare in "Shiva" schließlich eintrifft, ist es "too much to scream, so instead, I just started to laugh". Der Tod scheint für den Mitleidenden also eher Befreiung als Bürde. Zumindest erweist sich die feierliche Totenwache "Wake" vielmehr als Hymne an das Leben, aus dem wir alle unsere Lehren ziehen sollten. Wie eben auch der Erzähler schweren Atems realisieren muss, "the hardest thing is never to repent for someone else, it's letting people in". So marschiert er letztlich mächtigen Schrittes, begleitet von scheinbar selbst über den Tod erhabener Kirchenorgel, zu der Erkenntnis: "Some patients can't be saved, but that burden's not on you. Don't ever let anyone tell you you deserve that."
Letzteres kann man offenbar nicht laut und oft genug in die Welt hinausschreien, wird diese so kraftvolle Zeile doch unablässig wiederholt, und zwar zu derselben Melodie, die in "Atrophy" noch dazu diente, Seelenschmerz und Schuldgefühlen Ausdruck zu verleihen. Auf "Hospice" finden sich mehrere solche Leitmotive, wiederkehrende Melodien, die einem in leicht abgewandelter Form immer wieder begegnen und die bestimmte Assoziationen hervorrufen – wie es sich für einen richtigen Filmscore nunmal gehört. Und so greift auch "Epilogue", das Schlusskapitel der Geschichte, in dem die verstorbene Sylvia den Erzähler in seinen Träumen verfolgt, das noch recht hoffnungsvoll anmutende Versthema aus "Bear" auf und verwandelt es in die vielleicht traurigste Filmszene aller Zeiten. Und die sieht wohl erstmals für das gesamte Publikum gleich aus. Es ist eine Totale vom einsam im Bett liegenden Erzähler, gespielt von einem Mann, der leider bloß noch in unseren Köpfen Hauptrollen übernehmen kann: Jeff Buckley.
Fazit
"Now, I won't pretend I understand, because I can't and know I never will." In einem kurzen Vorwort im Booklet versucht Peter Silberman, Kopf der Band The Antlers, sein Publikum an die Komplexität von "Hospice" heranzuführen und spricht einem dabei mit genau diesem Satz voll aus der Seele. Denn dieses Werk ist ein Album von schier unbegreiflichem Tiefsinn, das mit seinen eloquenten und höchst verschlungenen lyrischen Strukturen unheimlich viel Interpretationsspielraum bietet und es somit der eigenen Fantasie überlässt, Zwischenräume zu schließen, Brücken zu schlagen und Angedeutetes zu deuten. Dadurch und aufgrund der universellen Themen, die es anklingen lässt, ist "Hospice" nichts Geringeres als ein Album für die Ewigkeit. Und natürlich: Ganz großes Kino.
Die Texte zu den Titeln dieses Albums können von der Homepage der Band heruntergeladen werden: "Hospice"-Lyrics
Anspieltipps
Mit "Prologue" anfangen, mit "Epilogue" aufhören.
Und dabei besonders auf die Texte achten.
Artistpage
Tracks
1. | Prologue | |||
2. | Kettering | |||
3. | Sylvia | |||
4. | Atrophy | |||
5. | Bear | |||
6. | Thirteen | |||
7. | Two | |||
8. | Shiva | |||
9. | Wake | |||
10. | Epilogue |
Paulina Banaszek - myFanbase
15.11.2009
Diskussion zu dieser CD
Weitere Informationen
Veröffentlichungsdatum (US): 18.08.2009Veröffentlichungsdatum (DE): 23.10.2009
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