Elementary Seeking

Mariha kommt aus Münster. Nicht weiter wichtig? Falsch. Denn jeder, der dieser Stadt jemals einen Besuch abgestattet hat, ist nach diesem eine völlig andere Person. Nicht möglich? Falsch. Münster kann teuflisch sein. Wieso?

Mal angenommen Du hast heute extrem gute Laune, Dir geht es bombig. An der Supermarktkasse lässt Du den kleinen Jungen vor, in der einen Hand einen Euro, in der anderen einen Schokoriegel, der es Dir mit einem schüchternen Lächeln dankt. Der ganz offensichtlich furchtbar überarbeiteten Verkäuferin, die an diesem Tag zu allem Übel auch noch im Alleingang den Laden schmeißen muss, wünschst Du aufrichtig einen "Schönen Tag noch" und hälst einer dankbaren Mutter die Tür auf, die darum bemüht ist, ihre zwei übermütigen Kinder in Zaum –und voneinander fern– zu halten. Die Sonne strahlt und zaubert Dir ein Lächeln aufs Gesicht. Vögel zwitschern, während Du fröhlich pfeifend Deine Kreise ziehst.

Voll bepackt mit tollen Sachen, die das Leben schöner machen steigst Du in den völlig überfüllten Zug, schaust verträumt aus dem Fenster heraus, räumst für eine ältere Dame deinen Sitzplatz, für die es keinen mehr gegeben hat. Und während Du so dastehst, im Zug zwischen all den fremden Menschen, bist Du mit Dir und der Welt zufrieden.

Wirklich zufrieden? Falsch. Erst einmal in Münster angekommen, erschüttert Dich die Stadt gehörig in Deinem grundfesten, Weltbild und Selbstbild. Plötzlich bist Du nicht mehr so unglaublich zufrieden, plötzlich überkommt Dich ein Gefühl von Überflüssigkeit in der Welt. Und wieso? Münster ist perfekt.

Neben dem weit über seine Stadtgrenzen bekannten Allwetterzoos, ist es auch nicht zuletzt der gebürtige Münsteraner Günther Jauch, mit dem man sich im Falle eines Falles brüsten könnte. Und als wäre das nicht genug, kennt man dieses besonders schöne Fleckchen Erde vom Hörensagen als ungemein sauberen Ort mit freundlichen Menschen und Studenten, die den Grundstein für Münsters prägnantestes Merkmal bilden: Münster ist seit Jahren die fahrradfreundlichste (und damit zwangsläufig umweltbewussteste) Stadt Deutschlands.

Die 270.000 Einwohner, darunter 48.500 Studenten, können sich darüber hinaus mit Folgendem rühmen: 2004 setzte man sich in seiner Kategorie durch und gewann den "LivCom"-Award. Seither darf jeder Münsteraner offiziell behaupten, er sei Teil der "Lebenswertesten Stadt der Welt" – noch Fragen?

Hinsichtlich der Tatsache, dass sich selbst bei Menschen mit einem Lebenslauf welcher Mutter Theresas Konkurrenz machen könnte auf Kurz oder Lang ein schlechtes Gewissen einstellt und sich das vermeintlich mangelnde Pflichtbewusstsein der Umwelt gegenüber breit macht, ist es vielleicht genau richtig gewesen, dass Marihas im zarten Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie nach Hamburg zog. Denn anstatt nun tagtäglich den Drang zu verspüren, eine allumfassende Beichte abzulegen, sich jede Schuld von den Schultern zu nehmen und von allen Sünden freisprechen zu lassen, verspürt sie nun einen ganz anderen: Musik will sie machen. Und dabei ganz sie selbst bleiben.

"Um einen guten Song schreiben zu können, muss mich eine echte Empfindung treffen, eine Emotion muss da sein.", sagt die 24-Jährige Musikerin, welche sich bereits im Vorprogramm der Jungs von A-Ha wiederfand und deren Authentizität so manchen Viva-MTV-Kaugummi-Pop-Verbraucher geradewegs aus den Latschen kippen lässt. Marihas zweite Single "It Hurts", welche gleichzeitig die Funktion des Openers übernimmt, ist ein wunderbar eingängiger Ohrwurm, wie man ihn in dieser Form kein zweites Mal auf der Platte finden soll. Es geht um kleine Seitenhiebe, um große Gefühle, um den Alltag: "I tell my fantasy/ you talk 'bout theory/ and it hurts. I got the impression/ that there's coming up depression/ and it hurts […] In my intimidation/ I find no one for protection/ and it hurts. I left a message on the answer phone/ and then I hear you were at home/ it hurts […] I do believe in conspiracy/ and live in this reality/ that hurts."

Mit "Absolutely Entertaining” treffen wir bereits auf zweitem Posten auf ein wahres Juwel, ehe wir und bei "I Got A Light" zu innerlichem Jubel hinreißen lassen. Wieso? Wir sind schadenfroh. Wieso? Es scheint tatsächlich Menschen zu geben, die sind ohne Münster besser dran. Erst in Hamburg nämlich fand Mariha zu folgenden Worten, welche die Zerbrechlichkeit und Eleganz ihrer 15 Songs in nur wenigen Zeilen wiederspiegeln: "I cannot find me and still there is this sadness/ I got room to spare and time to share/ and now I’m homeless. I need a break/ of myself or for myself/ cannot find it.”

Der von Selbstzweifeln und Unsicherheit geprägten Grundstimmung will Mariha auf "Free Now" ein für alle Mal den Riegel vorschieben und sich lossagen von Trauer und Melancholie, was ihr –glücklicherweise– niemals ganz gelingt: "Goodbye restlessness/ You’ve got me so long/ You never let me breath/ but I’m free now." Textlich auf ganzer Linie überzeugen kann Mariha mit "Gravity": "For telling stories you might need adventure first/ For times of glory you’ve hardly got to work/ For getting answers you just gotta dare to ask / For getting over it you gotta face the past […] For being quiet something else got to be loud […] For being hard you gotta know you’re actually soft." Amen. Womit wir wieder beim Thema wären: Wahl-Hamburgerin Mariha hat mit "Elementary Seeking" ein anständiges Album abgeliefert, das für seine Vielfältigkeit wohl keinerlei Preise gewinnen wird, wohl aber für Authentizität, Aufrichtigkeit und Magie.

Anspieltipps

It Hurts

Absolutely Entertaining

I Got A Light

Alive

Gravity

Brave Confession

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