Bewertung
Tool

10,000 Days

Vertraut-bekannte Songstrukturen? Nicht mit uns. Radiokompatible Singles? Haben die Anderen. Weltweiter Erfolg? Aber gerne! Vorhang auf, denn die Meister des modernen Progressive Rock sind zurück und wollen uns wieder mit einem neuen Sound-Monster erfreuen. Bitte nehmen Sie Platz, schnallen Sie sich fest und schließen Sie die Augen. Tool laden ein zum Tanz auf der Messerklinge des Machbaren.

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Fast punktgenaue fünf Jahre ließ uns die Band um Maynard James Keenan auf den Nachfolger zum großartigen "Lateralus" warten. Zwar konnte man sich auch genauso wie vor dem letzten Album-Release mit Keenan’s Zweitprojekt A Perfect Circle die Wartezeit ein wenig versüßen, doch Tool ist etwas Einzigartiges, auf das man sich dann doch immer wieder wie ein kleines Kind freut. Insgesamt stecken anderthalb Jahre Arbeit in dem Album. Laut Drummer Danny Carey wurde ein Jahr lang zum schreiben der Songs benötigt. Ein Jahr des gemeinsamen Jammens, konzentrierten Songwritings und waghalsigen Auslotens musikalischer Grenzen. Und trotz intensiver Vorbereitung folgte dem noch ein halbjähriger Aufenthalt im Studio, bis all diese auf Tape gebannten Ideen, Rhythmen, Tempowechsel und Melodien auf einen Nenner gebracht werden konnten. Das Ergebnis lautet 10,000 Days. Ob sich die Mühe gelohnt hat, muss bei dieser sehr speziellen Band jeder für sich entscheiden, aber die Vorfreude auf dieses Album war gemeinhin gigantisch. Internetforen und selbst die Musikzeitschriften quollen über. Immer wieder gab es kleine News, Gerüchte und Randnotizen. Jedoch kamen diese selten von der Band direkt, sondern anscheinend häufig aus dem selbst ernannten näheren Umfeld. Und dementsprechend gering war meistens auch der Wahrheitsgehalt dieser Meldungen. Zu guter letzt fanden eine Nacht vor dem Release über das gesamte Bundesgebiet verteilt in diversen Clubs sogenannte "Get it first!"-Events statt, auf denen teilweise sogar zu wenige CDs für die erschienenen Besucher vorhanden waren. Das sagt dann zum Thema Vorfreude wohl auch genug.

Wer nun endlich das Album in Händen halten durfte, wurde jedoch erst mal davon abgehalten, sich mit der Musik zu befassen. Dem bereits Tool-typisch fantastisch gestaltetem Cover liegt eine spezielle 3-D-Brille bei, zu der im Booklet passende Konzeptbilder einschließlich der Bandmitglieder abgebildet sind. Und das Beste: Es handelt sich hierbei nicht um eine teurere Special-Edition, sondern um die Standartausgabe zum völlig normalen Preis. Dafür schon mal ein ganz großes Plus, denn ein mit soviel Liebe zum Detail gestaltetes Drumherum findet man heute in Zeiten sinkender Plattenverkäufe wirklich nur noch selten. Dabei gibt genau so was doch vielleicht den entscheidenden Anreiz, nicht nach einer "Sicherheitskopie" im WWW zu suchen.

Aber nun zum Eingemachten, schließlich reden wir hier von Musik. Empfangen wird man durch den Opener und der ersten Single "Vicarious". Moment mal! Single? Genau, die erste Single, und diese bläst nach einem kurzen, ruhigen Intro quer durch die Gehörgänge und zeigt sofort, dass hier nichts normal ist. Während der Part, den man am ehesten noch als Strophe bezeichnen will, eher bedrohlich wirkt, rockt der Rest des Songs einfach grandios. Und die Arrangements klingen genial, wobei sich das genaue Zusammenspiel der Instrumente eher erst beim zweiten oder gar dritten Durchlauf offenbart. Und das Schönste daran: Es wird noch schlimmer! Inhaltlich hält uns Keenan in diesem gesellschaftskritischem Stück den Spiegel vor das Gesicht und besingt die Sensationsgier zu Leid und Katastrophen anderer Leben, wie wir sie täglich im TV aus sicherer Entfernung beobachten können. Insgesamt also durchaus die passende Singleauskopplung, denn eingängiger wird es nicht mehr.

"Jambi" wird von einer vor Kraft strotzenden Gitarre vorangetrieben, während sich wirklich schön-melodische Gesangspart wieder ständig mit ruhigen Momenten abwechseln. Der Song selber ist unglaublich spannend, denn man weiß nie so recht, was einem hinter der nächsten Biegung erwartet, und immer wieder wird man von neuen Wendungen überrascht.

Mit den beiden Titeln "Wings for Marie (Part 1)" und "10,000 Days (Wings Part 2)" erleben wir den ersten, zentralen Fixpunkt des Albums. Inhaltlich verarbeitet Keenan hier den Tod seiner Mutter, die vor 2 Jahren an den Spätfolgen einer Hirnblutung starb, nachdem sie umgerechnet ziemlich genau 10.000 Tage dadurch bereits an den Rollstuhl gefesselt war. "Wings for Marie" ist eher sehr ruhig und traurig und stellt eine Art des Abschiednehmens dar, während "10,000 Days" voller Wut nach Erlösung schreit, wobei die Zerrissenheit des Protagonisten mit der gesamten Situation perfekt durch die Musik untermalt wird. Beide Stücke zusammen ergeben ein ergreifendes Meisterwerk.

Bei "The Pot" kann man den Kopf erstmals ein wenig ausschalten, ist es doch am ehesten mal ein "normaler" Rocksong, bei dem Keenans Gesang schon beinahe ein wenig an Chris Cornell (Ex-Soundgarden / Audioslave) erinnert, aber keine Angst. Es bleibt trotz allem ein typischer Tool-Song, wobei er mit einer Dauer von 6:21 Minuten aber bereits zu den kürzeren Stücken der Platte gehört.

Nach einer kurzen Atmosphären-Pause ("Lipan Conjuring") ist "Lost Keys (Blame Hofmann)" bereits das Intro zum nächsten, zentralen Konzeptstück. Denn im darauf folgenden "Rosetta Stoned" erzählt der "Chosen One" seine phantastische Geschichte. Ob er wahr spricht oder verrückt ist, bleibt der Phantasie des Hörers überlassen. Genauso wie die genaue Intention hinter dem Song. Aber eines ist klar: "Rosetta Stoned" ist ein Kracher, und wird in den bald folgenden Live-Shows garantiert eines der Highlights!

Bei "Intentions" wird es sehr ruhig und eigenwillig. Nach und nach wird eine Soundschicht über die Nächste gebettet, nur um dann wieder auf eine minimalistische Gitarrenmelodie reduziert zu werden. Danach träumt der Song über mehrere Minuten hinaus in ein schlafwandlerisches Finale voll von nervöser Ruhe.

"Right In Two" zeigt dann noch mal alle Stärken der Band. Schöne Melodien, interessante Tempo-Änderungen, gekonntes Wechselspiel von ruhig und laut, schnell und langsam, dramaturgisch wundervoll verpackt. Hinaus aus dem Traum wirft uns "Viginti Tres", in dem atmosphärische Sound-Spielereien langsam wieder zu Atem kommen lassen. Alles, was man sich an dieser Stelle wünscht, ist es, diese Reise wieder von vorne beginnen zu dürfen.

Zu guter letzt der Versuch eines Fazits: Wie immer verweigern Tool sich mal wieder komplett dem gängigen Songschema "Strophe – Refrain – Strophe – Refrain – Bridge – Refrain". Wer außerhalb dieser Grenzen nichts mit Rockmusik anfangen kann, sollte auch hier die Finger von lassen. Diese Platte benötigt einige Durchläufe, bis der Funke richtig überspringt, doch danach lässt sie einen nicht mehr los. Wer bisher Tool noch nicht für sich entdeckt hat, dem sei ans Herz gelegt, diesem Album drei oder vier Chancen zu geben. Wahrscheinlich werdet ihr es nicht bereuen, denn es bleibt immer wieder spannend und bei jedem Hören lassen sich neue, großartige Kleinigkeiten entdecken.

Wenn sich also ein populäres Album in letzter Zeit die Bezeichnung "Alternative Rock" verdient hat, dann dieses hier. Und nebenbei ist es auch noch die stärkste, spannendste und einfach beste Rockscheibe, die in diesem Jahr bisher den Weg in die Verkaufsregale gefunden hat. Tool sind wieder da, wieder machen sie alles irgend wie anders, und wieder ist das Ergebnis großartig.

Anspieltipps:

"Vicarious"

"Jambi"

"Rosetta Stoned"

Tracks

1.Vicarious
2.Jambi
3.Wings For Marie (Pt 1)
4.10,000 Days (Wings Pt 2)
5.The Pot
6.Lipan Conjuring
7.Lost Keys (Blame Hofmann)
8.Rosetta Stoned
9.Intension
10.Right In Two
11.Viginti Tres

Martin - myFanbase
04.05.2006

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