Bewertung
Take That

The Circus Live

Die Wahrheit und nichts, als die Wahrheit. Eine Maxime, die man sich zwar auf die Fahne schreibt, deren Einhaltung im Alltag aber nicht immer gelingt. Der neue Haarschnitt der Freundin, der den tatsächlichen Promillewert der Friseurin nur erahnen lässt. Der Sonntagsbraten, der den Ofen zu lange von innen gesehen hat. Der obligatorische Notfall-Anruf unter Freundinnen, wenn das Date sich anfühlt wie die Vorstufe der Hölle. Es heißt, es gibt Situationen im Leben, in denen man eine kleine Notlüge der Wahrheit vorziehen sollte, um seine Mitmenschen nicht unnötig zu verletzen.

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Umso angenehmer ist es, wenn man unverblümt die Wahrheit – und nichts als die Wahrheit – aus sich heraussprudeln lassen kann. Denn seien wir ehrlich, natürlich denkt man bei Take That noch immer eher an hyperventilierende Mädchen und "Never Forget". Und natürlich erinnern wir uns daran, dass Take That zuweilen eher Gary Barlow & Chor hätte heißen können. Und umso größer wiederum die Spannung auf die "The Circus"-DVD. Jene verspricht dem Zuschauer, die spektakulärste und die intimste Performance der Band auf zwei Disks zu vereinen.

Ein prall gefülltes Wembley Stadion, 80.000 Menschen aus aller Welt – vorwiegend die Mädels von damals, die mittlerweile Frauen sind –, eine weitläufige Bühne, die Großes erahnen lässt, insgesamt 238 Mitwirkende. Und ein für London unverschämt gutes Wetter: Sonne pur und blauer Himmel. Alles wartet, dass sich der Vorhang öffnet für eine phänomenal gute Show. Eine gigantische mit Blumen besetzte Spieluhr setzt ein, kunterbunte Clowns, Seifenblasen, Slapstik, triumphale Melodien. Ein gigantischer Heißluftballon schwebt in die Mitte der Arena. Ebenso künstlerisch wie skurril eröffnet sich die Show mit einer siebenminütigen wahrhaftigen Zirkuseinlage, die zu einem anderen Anlass völlig ausgereicht hätte, um alle Anwesenden in Trance zu versetzen. Doch dann: Aus dem Nichts erscheinen Gary Barlow, Jason Orange, Howard Donald und Mark Owen auf der Stage mitten im Publikum. Frenetischer Jubel. Take That sind wieder zuhause und ein ganzes Stadion rollt ihnen den roten Teppich aus. Das sind Ausmaße, die selbst den vieren Lampenfieber bescheren dürfte. Doch das lässt sich nur vermuten: spüren tut man nämlich rein gar nichts von Nervosität. Im Gegenteil: die ersten Titel erscheinen in ihrem farbenfrohen Knallbonbon eher wie ein Musical als ein Popkonzert. Überdimensionale Sonnenblumen, zahllose Pantomimen in Himmelskleidern, großartige Kostüme, Songs so süß wie Zuckerwatte. Was den einen in den Ohren klingt wie ein Alptraum à Alice im Wunderland, gewinnt mit zunehmender Länge immer mehr an Faszination.

Schnell zeigt sich: Die Herzensbrecher von damals sind viel mehr als synchron tanzende durchschnittliche Sänger, die auch zehn Jahre nach ihren vermeintlich besten Zeiten immer noch bei Tageslicht absolut vorzeigbar sind. Ob bei "Pray" mit einem etwas amüsant anmutenden Ausdruckstanz, souverän mit Smalltalk zwischen den Songs, lediglich begleitet von Mike Stevens auf der Trompete, im Sprühregen beim schmachtenden "Back For Good" – der heutige Facettenreichtum dieser ehemaligen Boyband ist erstaunlich. Die Setlist bewegt sich mit Bandklassikern, alten und neuen Uptempo-Nummern, Country und Rockelementen auf sicherem Eis. Vier Menschen haben 80.000 fest im Griff. Spätestens mit der sagenhaften Performance von "The Garden", deren Choreographie gemacht ist, den Atem zu rauben. Ein gigantischer Elefant, der wirkt als sei er nicht mehr als ein Hologramm, erhebt sich wie aus dem Nichts, trägt die vier auf einem Triumphzug anmutig voranschreitend durch die Arena. Augenblicke, die keiner der Anwesenden vergessen wird. Überraschend auch die unglaublich pointierten Stimmungswechsel, das Umschalten zwischen den Gemütszuständen, und die sogar teils schauspielerische Einlage zu "What Is Love", die dem Stück eine tiefe Traurigkeit vermittelt und einen doppelten Boden. Mit der Dunkelheit legt sich in dieser Nacht auch ein großer Zauber über London.

Abby Road. Im Studio. Nur die Jungs, einige Musiker, das Kamerateam – sonst niemand. Spielten sie im Juli in Wembley die "Saturday Night Version" ihrer Songs, höre man auf der zweiten DVD eher die "Sunday Morning Version", macht Mark Owen den Kontrast deutlich.

Schwarzweiße Interviewsequenzen verbinden die Performances, die Owen, Donald, Orange und Barlow nun allesamt sitzend interpretieren. Ohne Pomp, ohne große Effekte, kein Glitter, keine Federboas oder Steptanz: was nun zählt, ist das Gefühl. Nicht die überbordende Begeisterung der Massen. Vielmehr wirkt dieses minimalistische Showcase wie eine Liebeserklärung an ihre Musik, die viel Glamour und Show vertragen kann, aber keinesfalls braucht und für sich zu stehen und zu berühren weiß. Und die Herren von Take That beweisen ein hervorragendes Auswahlhändchen: jeden Song, dem sie am 09.09.2009 in diesem berühmt-berüchtigten Studio spielen, bestätigt genau das. Und unterstreicht die musikalische Entwicklung der vier.

Fazit

"Einer neuen Wahrheit ist nichts schädlicher als ein alter Irrtum", sinnierte Goethe einst. Längst vorbei die Boygroup-Tage. Längst haben die vier Briten aus ihrem Schatten hervor- und ihre eigenen – enorm großen – Fußstapfen mit ihrem Comeback austreten können. Man mag immer noch an der Meinung festhalten, Take That sei nicht mehr als weinende Mädchen, ohrenbetäubender Lärm, bauchfreie Oberteile und Plastikpop. Das, und hier finden wir besagten Irrtum, ist Vergangenheit. Das Quartett hat sich nicht nur zu eigenständigen Künstlern entwickelt. Sie haben mit einem anrührend intimen sowie einem kolossalen, kunterbunten Konzert in Sachen Effekte und Entertainment möglicherweise einen neuen Maßstab gesetzt, an dem in diesem Ausmaß vielleicht nicht jede Band rütteln möchte, sicher aber auch nicht jede kann.

Anspieltipps

Wembley Arena (Disc 1):

The Garden

Wooden Boat

How Did It Come To This

The Circus

What Is Love

Said It All

Never Forget

Relight My Fire

Abby Road (Disc 2):

Up All Night

Julie

Said It All

Artistpage

Take-That.de

Inhalt/Tracks

Disc 11.The Adventures Of A Lonely Balloon
2.Greatest Day
3.Hello
4.Could It Be Magic
5.Pray
6.A Million Love Songs
7.Back For Good
8.The Garden
9.Shine
10.Up All Night
11.Wooden Boat
12.How Did It Come To This
13.The Circus
14.What Is Love
15.Clown Medley
16.Said It All
17.Never Forget
18.Patience
19.Relight My Fire
20.Hold Up A Light
21.Rule The World
Disc 21.The Garden
2.How Did It Come To This
3.Greatest Day
4.Up All Night
5.Patience
6.What Is Love
7.The Circus
8.Shine
9.Rule The World
10.Julie
11.Said It All

Aljana Pellny - myFanbase
28.11.2009

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