Rectify - Review Staffel 2
Am Ende des Auftakts zur zweiten Staffel von "Rectify" gibt es eine (brillante) Traumszene, in der Daniel seinem Freund Kerwin davon erzählt, wie es war, nach 19 Jahren Todeszelle wieder in die freie Welt treten zu können: "It was the wildest week," sagt Daniel mit leuchtenden Augen über seine ersten sieben Tage in Freiheit. "Every day felt like a lifetime. It was pretty overwhelming." Diese Aussage Daniels lässt sich perfekt zu einem Metakommentar zur ersten Staffel von "Rectify" ummünzen: In nur sechs Episoden vermochte die Serie eine überwältigende Wirkung auf den Zuschauer auszuüben und ließ uns mit einem neuen, wilden, geradezu ungebändigten Blick auf die Welt schauen, so wie sie ein Mann erlebt, dem sie fast zwei Jahrzehnte lang verwehrt blieb.
In seinem zweiten Jahr verschiebt "Rectify" diesen Blick und fokussiert sich verstärkt auf das Unschöne, das Gebrochene, das Kaputte. Zu Beginn der Staffel liegt Daniel im Koma, zusammengeschlagen von einem Mob, der sich so an Daniels vermeintlichem Mord an Hanna rächen wollte. Nachdem die Frage um Daniels Schuld oder Unschuld in der ersten Staffel quasi keine Rolle spielte, rückt die Thematik nun in den Vordergrund, ja muss dies konsequenterweise, denn sie wird für die Familie Holden/Talbot, für die Justiz und vor allem für Daniel selbst wichtiger als je zuvor. Die Schuldfrage hängt wie ein Damoklesschwert über Daniel, sie ist sein ständiger Begleiter. Hat er Hanna umgebracht? Ist er doch unschuldig? Jede Episode lässt den Zuschauer mit einer anderen Meinung zurück, die mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung tendiert. Doch letztlich wird klar, dass die Frage nach der Wahrheit um Hannas Mord gar nicht die eigentliche Frage ist. In einem Justizsystem, in der persönliche Machtspiele und die öffentliche Meinung dominieren, hat Wahrheit keinen Wert. Und so ist auch die Frage nach Schuld letztlich wertlos. Für Daniel kann es am Ende daher gar nicht mehr um die tatsächliche Wahrheit gehen, sondern nur noch darum, für welche Wahrheit er sich entscheidet.
Am Ende des Tages muss sich aber jeder selbst der Wahrheit und damit der Schuldfrage stellen und dies ist eines der großen Themen dieser zweiten Staffel. Jeder in der Familie Holden/Talbot hat mit seinem Gewissen zu kämpfen, mit seinen Unzulänglichkeiten und falschen Entscheidungen, all dies im Spannungsfeld zwischen dem inneren Kreis der Familie, der Antipathie der Bewohner Paulies und dem Druck von Justiz und Polizei. Ganz hervorragend schafft es Ray McKinnon hierbei, die Zeit, die ihm durch zehn Episoden zur Verfügung steht, für die weitere Ausarbeitung der Charaktere und ihrer Probleme zu nutzen. Janets Schuldgefühle gegenüber Daniel, Amanthas Unsicherheiten, Ted Jrs tiefsitzende Ängste und Wut, Tawneys Gewissensbisse wegen ihrer Zuneigung zu Daniel – all diese Gefühle bekommen Raum und Tiefe, werden in gemeinsamen Szenen der Figuren behandelt, durchleuchtet und verändern sich dadurch, entwickeln sich weiter. Da geht es um Liebe und Hass, Freude und Trauer, Hoffnung und Verzweiflung, Verlust und Wiederkehr, Gemeinschaft und Einsamkeit – Pole, zwischen denen die Figuren hin- und herschwanken.
Waren die Familienmitglieder bisher wie Trabanten, die um die Zentralsonne Daniels kreisten (oder wie Asteroide, die von Daniel wie ein schwarzes Loch angezogen wurden, je nachdem), so bekommen sie nun ein vielschichtigeres Profil, mehr Eigenleben. Wir bekommen tiefere Einblicke in das zerrüttete Eheleben von Tawney und Ted Jr, in Amanthas Suche nach einer eigenen Identität, in die Gefühlswelt von Janet in ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau, in die schwierige Zwickmühlensituation, in der sich Ted Sr befindet. Das geht bis hin zu Charakteren wie Jon Stern, der den schmalen Grat zwischen Daniels Anwalt und Amanthas Freund wandern muss, und Sheriff Daggett, der seine eigene moralische Integrität hinterfrägt. Somit bietet auch diese Staffel wieder große emotionale und packende Momente, die einem manchmal durch Mark und Bein gehen und einem bewusst machen, wie sehr man mittlerweile an diesen Charakteren hängt.
Das große Faszinosum der Serie ist und bleibt aber Daniel Holden. Aden Young imponiert auch in Staffel 2 wieder mit seiner feinfühligen und facettenreichen Darstellung, dem fantastischen Wechselspiel zwischen ruhig-bedächtig und bedrohlich-furchteinflößend. Nicht selten fragt man sich, wie dieser Mann denn ein junges Mädchen umbringen könnte, nur um dann völlig umgeworfen zu werden und dies plötzlich in Betracht zu ziehen. Doch selbst in diesen Momenten reißen die Sympathie und das Mitgefühl, das man für diese Figur empfindet, nicht ab. Dabei verhält sich Daniel zusehends irrational, stößt seiner Familie und den Zuschauern gleichermaßen vor den Kopf. Doch man erkennt bald, dass dies nur das Nebenprodukt seines erwachenden Bewusstseins ist, dass er zu lernen beginnt, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und zu entscheiden. Er beginnt, nach und nach aus seiner lähmenden Passivität auszubrechen, lernt neue Leute kennen, macht neue Erfahrungen und verhält sich dabei verblüffend oft wie der Junge mit 18 Jahren, unbeholfen, unschlüssig, in der Zeit stecken geblieben. Genau das aber macht diese Figur so enorm interessant: Man weiß nie, was man von Daniel zu erwarten hat.
So bleibt einem nach zehn Episoden nur eines zu sagen: "It was pretty overwhelming." Die zweite Staffel von "Rectify" schafft es, das extrem hohe Niveau der ersten Staffel zu halten und trumpft mit konsequentem Storytelling, philosophisch-tiefgründigen Dialogen, umwerfend schöner Regie und Kameraführung, phänomenalen Schauspielleistungen und einer emotionalen Kraft auf, die so selten im Fernsehen zu finden ist. Gründe genug, warum "Rectify" eines der aktuell besten Formate ist, die das US-Fernsehen zu bieten hat.
Maria Gruber - myFanbase
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