Bewertung
Olivier Assayas

Carlos – Der Schakal

"My name is Carlos. You may have heard of me."

Foto: Copyright: Warner Bros.
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Inhalt

Ilich Ramírez Sánchez (Édgar Ramírez), später bekannt geworden unter dem Namen "Carlos", ist ein zu lebenslanger Haft verurteilter venezolanischer Terrorist und Mörder. Nach zahlreichen, eher stümperhaft ausgeführten Bombenanschlägen gelangte Carlos zu Berühmtheit, als er das sechsköpfige Team anführte, das 1975 das OPEC-Hauptquartier in Wien angriff, wo drei Menschen starben und insgesamt 60 Geiseln genommen wurden. Bis zu seiner Festnahme im Sudan im Jahr 1994 lebte Carlos mehrere Leben unter verschiedensten Pseudonymen und galt als einer der international meistgesuchten Terroristen.

Kritik

Ein Portrait über einen mittlerweile inhaftierten Terroristen zu drehen, dem Morde an bis zu 83 Menschen nachgesagt werden, und der heute offen mit Islamismus, Osama Bin Laden und Saddam Hussein sympathisiert, ist wahrlich kein leichtes Unterfangen, das zudem eine differenzierte Herangehensweise erfordert. Ursprünglich wollte der französische Regisseur Olivier Assayas lediglich Carlos' Festnahme 1994 in einem eineinhalbstündigen Film näher beleuchten, merkte nach intensiver Recherche jedoch nicht nur, dass die Person Carlos so unglaublich mehr Filmmaterial liefert, sondern auch, dass ein Film über ihn ebenso als Abbild der damaligen Generation universeller als die Biographie einer speziellen Filmfigur fungieren kann und sollte. Das Endergebnis ist ein Film mit einer Laufzeit von fünfeinhalb Stunden, der aufgrund der schieren Länge in vielen Ländern lediglich als dreigeteilte Mini-Serie oder als gekürzter dreistündiger Film vorgeführt wurde.

Und so wurde "Carlos – Der Schakal" schließlich auch bei den Golden Globes 2011 berücksichtigt und als beste Mini-Serie nominiert, wo sie nun unter anderem gegen die HBO-Miniserie "The Pacific" und die Follett-Verfilmung "Die Säulen der Erde" um die begehrte Trophäe antritt. Dass es der Film überhaupt so weit geschafft hat und nicht als nicht-amerikanische Produktion von vornherein ignoriert wird (wie es leider Gottes ja zuhauf geschieht), ist dabei einem auf dem Papier relativ simpel klingenden Umstand geschuldet: der Anspruch, eine Person, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten auch oft in der Popkultur Einzug fand (man erinnere sich allein an die zahlreichen Terroristen und Bösewichter, die den Spitznamen "Der Schakal" tragen) so detailgetreu darzustellen wie möglich. Assayas' Aufgabe war es nicht, Carlos zu entmystifizieren, ihn als Opfer der Umstände und der Erziehung des marxistischen Vaters, der ihn nach Lenin benannte, oder gar als feigen Mörder darzustellen. Durch exzessive Recherche konnte Assayas die Figur Carlos so rekonstruieren, wie es sonst oft nur ein Querschnitt unterschiedlichster Zeitzeugenberichte vermag.

Von Idealen getrieben, sieht der damals noch unter seinem eigentlichen Vornamen bekannte Carlos keine andere Möglichkeit, als das eigene Ansinnen notfalls auch durch Gewalt und Einschüchterung durchzusetzen. Je weiter der Film voranschreitet, umso eher verstärkt sich jedoch der Eindruck, als ginge es Carlos insbesondere um ihn selbst. So widersetzt er sich auch mal Befehlen und nimmt lieber eine große Menge an Lösegeld entgegen als die eigentliche Mission bis zum bitteren Ende auszuführen, schießt wie von Sinnen auf Polizisten, da er sich von deren Überwachung genervt fühlt oder genießt regelmäßig das ausschweifende Leben eines Playboys ohne Rücksicht auf die Frau, mit der der Weiberheld momentan eine Beziehung pflegt. Er ist ein Egomane, der absoluten Gehorsam verlangt, insbesondere dann, wenn seine eigene Macht zu schwinden scheint. Nein, ein Sympathieträger ist Carlos nie, gleichwohl er auch liebevoll und fürsorglich sein kann.

Dennoch verliert man in den ganzen 330 Minuten nicht ein Mal das Interesse an ihm als Charakter, was auch ein Verdienst von Darsteller Édgar Ramírez ist. Im Verlauf des Films geht Carlos nicht nur optisch eine Reihe von Veränderungen durch - unter anderem musste Ramírez während des Drehs knapp 20 Kilogramm Gewicht zulegen – sondern wirkt auch charakterlich gereift und nicht mehr so rastlos wie zu Beginn. Insbesondere gegen Ende, als er nicht mehr als Bedrohung angesehen wurde und sich ob der zahlreichen Ausweisungen aus diversen Staaten als Heimatloser fühlen musste, schlägt sein Egoismus voll durch, der bis dahin in vielen Teilen noch ansatzweise durch politische und idealistische Akribie erklärt werden konnte. Édgar Ramírez gelingt es nahezu mühelos, einen hochkomplexen Charakter über zwei Jahrzehnte hinweg zu begleiten und so den gesamten Film zu tragen. Man kann nur hoffen, dass der Venezolaner nun auch in Hollywood durch geeignete Rollenangebote die Wertschätzung erhält, die er verdient, nachdem er bereits in "Das Bourne UItimatum", "8 Blickwinkel" oder "Domino" in Ansätzen seine Schauspielfähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Entsprechend verdient ist die Nominierung als bester Darsteller in einer Mini-Serie für die Golden Globes 2011. Die anderen Rollen sind ebenso perfekt besetzt, auch wenn sie am Ende eher eine untergeordnete Rolle spielen, da die einzelnen Charaktere eher Carlos begleiten als den Film entscheidend zu prägen. Insbesondere Alexander Scheer als Carlos' rechte Hand Johannes Weinrich, bisher vor allem durch seine Hauptrolle in "Sonnenallee" bekannt, sowie Nora von Waldstätten als Magdalena Kopp, später die Ehefrau von Carlos, bekommen genug Screentime, um zumindest einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Ansonsten lebt der Film vom andauernden Wechsel von Schauplätzen, Gefährten und Sprachen (im Film wird unter anderem Englisch, Spanisch, Französisch, Deutsch, Arabisch, Russisch und Japanisch gesprochen), was den Einstieg für einige Zuschauer sicherlich erschweren wird. Dazu kommt, dass "Carlos – Der Schakal" ähnlich wie "Der Baader Meinhof Komplex" gar nicht daran denkt, das Geschehen auf der Leinwand bis ins letzte Detail zu erklären und in den jeweiligen zeitlichen Kontext zu bringen. Nicht umsonst meint die Washington Post, dass man alle Geschehnisse und historischen Personen des Films nur dann kennen kann, wenn man in dieser Zeit auch tatsächlich als Diplomat tätig war. Ganz so tragisch ist es zwar nicht, ein Hintergrundwissen sollte aber vorhanden sein, um den Film auch entsprechend würdigen zu können. Umso faszinierender werden schließlich auch die teils minutiöse Darstellung der täglichen Routine eines Terroristen oder die internen Meinungsverschiedenheiten, die immer wieder zu Konflikten, Grabenkämpfen und Austritten führen.

Fazit

"Carlos – Der Schakal" ist ein fünfeinhalbstündiger Kraftakt sondergleichen, dem es gelingt, den wohl faszinierendsten Terroristen der vergangenen Jahrzehnte mit all seinen Facetten darzustellen und dennoch den Mythos, der ihn umgibt, nicht zu zerstören. Am Ende tragen vor allem der eigene Anspruch an die Komplexität der damaligen Verflechtungen sowie die herausragende schauspielerische Leistung von Édgar Ramírez dazu bei, dass aus dem Film ein Werk geworden ist, das jeder mal gesehen haben sollte - natürlich in der langen Version. Wenn jemals der Begriff "episch" angebracht war, dann hier.

Andreas K. - myFanbase
27.12.2010

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