Review: #6.15 Übers Meer
Als eine Art Metakommentar sagt Allison Janney aka Die Mutter zu Beginn dieser Episode: "Every question I answer will simply lead to another question." Mit diesem Satz wird nicht nur die Quintessenz von #6.15 Übers Meer, sondern auch eines der wichtigsten Charakteristika von "Lost" sehr gut auf den Punkt gebracht. Ja, wir können uns aufregen so viel wir wollen, aber so ist es nun einmal: "Lost" stellt uns vor Fragezeichen. "Lost" lässt uns tagelang grübeln. "Lost" lässt uns spekulieren und wilde Theorien aufstellen. Und "Lost" liefert mit der Beantwortung einer Frage immer gleich auch ein neues Rätsel.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Man kann als Zuschauer frustriert abschalten und sich darüber ärgern, dass selbst in Staffel 6 neue Fragen aufgeworfen werden, die einen ratlos zurücklassen. Oder man kann es genießen und sich davon beeindrucken lassen, wie Damon Lindelof und Carlton Cuse es schaffen, auch nach sechs Jahren noch ihr hochkomplexes Konstrukt weiterzuspinnen und interessante Mysterien zu kreieren, die wir immer nur teilweise, aber wahrscheinlich nie hundertprozentig erfassen können. Ich entscheide mich für letzteres. Denn macht dieses Rätselhafte, dieses immer wieder überrascht werden nicht den einzigartigen Reiz der Serie erst aus?
"We are here for a reason."
Das Reizvolle an "Lost" ist dabei vor allem der zwiebelartige Aufbau der Erzählung, die uns immer ein kleines Stückchen mehr preisgibt, immer ein Stückchen näher an das Geheimnis rücken lässt. Als wir Ende der dritten Staffel in #3.20 Der Mann hinterm Vorhang erstmals mehr über einen gewissen Mann namens Benjamin Linus erfuhren, dachten wir, dass wir nun endlich den großen Drahtzieher des Geschehens kennen gelernt hätten. Doch dann wurde klar, dass auch Ben nur ein Mittelmann ist, dass es da jemanden namens Jacob gibt, den Mann hinter dem Vorhang hinter dem Vorhang. Und nun, kurz vor Schluss, heißt es endlich: Vorhang auf!
In typisch kryptischer "Lost"-Manier startet die Episode in medias res mit einer Frau, die auf der Insel strandet. Allgemeine Verwirrung. Doch Claudia stellt sich als niemand andere als die Mutter von Jacob und Smokey heraus, die – so erfahren wir diesmal – Zwillingsbrüder sind. Großartig. Hier wird natürlich ein bedeutungsschweres biblisches Element in die Story mit eingewoben, die den Bruderzwist zwischen Jacob und Smokey an die bekannten alttestamentlichen Geschichten über Jakob und Esau oder Kain und Abel anlehnt, und "Lost" so mehr denn je zu einer Saga biblischen Ausmaßes erklärt.
Darf ich also vorstellen: Die Mutter. Nennen wir sie Die Mutter, denn wie auch Smokey bleibt sie die ganze Zeit über namenlos – in einer Serie wie "Lost", in der Namen schon immer eine wichtige Rolle gespielt haben, ist das natürlich umso bedeutsamer. Gerade im Falle von Smokey, der später durch Jacob seine Menschlichkeit verliert, seinen Körper, seine Identität, ist die Namenlosigkeit sehr symbolisch, was natürlich vermuten lässt, ob Die Mutter nicht vielleicht selbst als Rauchmonster unterwegs gewesen ist (und deshalb davor warnte, in das Licht zu gehen). Bedenkt man, dass sie später das ganze Dorf einfach mal so in Schutt und Asche legt, ist dies sogar sehr wahrscheinlich.
Die Mutter tötet Claudia eiskalt und beschließt, die Zwillinge selbst großzuziehen. Warum sie das tut? Aus Einsamkeit vielleicht, vor allem aber, da sie nach einem Nachfolger als Beschützer der Quelle suchte. Interessant ist auf alle Fälle das Motiv "Raised by Another", dass also jemand das Kind einer fremden Person großzieht (siehe Danielle, Alex und Ben; Claire, Aaron und Kate). Davon ahnen die zwei Jungen jedoch nichts. Die Brüder werden älter und wachsen in dem Glauben auf, Die Mutter sei ihre Mutter, die Insel das Zentrum der Welt und sie deren einzige Bewohner. Zunächst einmal fantastisch ist hier das Casting für Titus Wellivers und Mark Pellegrinos Jungausgaben, Ryan Benford und Kenton Duty. Auch wenn hier letztlich der einzige Kritikpunkt der Folge besteht, nämlich dass von Benford und Duty einfach nicht dieselbe Faszination ausgeht wie von deren erwachsenen Pendants und der wahre Wow-Effekt somit erst ab Mitte der Episode eintritt, so ist die optische Ähnlichkeit einfach gewaltig und die Leistung der Jungschauspieler sehr solide. Zudem werden wir endlich in der Vermutung bestätigt, dass der ominöse blonde Junge (#6.04, #6.12) tatsächlich Jacob ist.
"They come, they fight, they destroy, they corrupt. It always ends the same."
Wunderbar ist natürlich, wie viele Motive sich in dieser Geschichte wieder finden. Die Schwarz-Weiß-Symbolik, das Motiv des Spiels und die Bedeutung von "Regeln", die Tatsache, dass Smokey etwas "besonderes" ist, die Gegenüberstellung von Glaube (Jacob) und Wissenschaft (Smokey), und letztlich natürlich der Kampf zwischen Gut und Böse. Dabei wird aber ganz und gar nicht Schwarzweißmalerei betrieben, im Gegenteil: Die Episode zeigt uns vielmehr, was die Beweggründe für Jacob und Smokey sind, dass keiner von beiden völlig gut oder völlig böse ist. Zwar zeigt Smokey schon als Kind, dass er träumerischer, waghalsiger und rebellischer ist als sein Bruder, der eher ein gutmütiges, gehorsames und hilfsbereites Wesen besitzt – doch schlussendlich ist Die Mutter die Wurzel allen Übels.
Was Smokelocke Claire in #6.08 Kundschafter erzählte, fasst den Charakter Der Mutter perfekt zusammen: "My mother was crazy [...] She was a very disturbed woman." Wir können nur vermuten, wie lange Die Mutter bereits auf der Insel lebt, doch es muss eine Ewigkeit gewesen sein. Deshalb will sie Smokey zu ihrem Nachfolger machen, aber dieser erfährt die Wahrheit über Claudia und verlässt seine Adoptivmutter – und damit seinen Bruder, der sich nicht dazu durchringen kann, Die Mutter allein zu lassen. Man kann hier nicht nur Jacobs Loyalität sehr gut verstehen, die natürlich auch daraus resultiert, dass Jacob seine echte Mutter nicht sehen kann, sondern auch Smokey, der sich von Der Mutter betrogen fühlt und es sich nun zum obersten Ziel macht, die Insel zu verlassen.
Sobald nun Welliver und Pellegrino als erwachsene Versionen von Smokey und Jacob auf den Plan treten (Anmerkung: Die Mutter ist natürlich nicht gealtert), kommt die Sache so richtig ins Rollen: Smokey erzählt Jacob von dem Phänomen, dass sich "Metall eigenartig verhält", dem besonderen Elektromagnetismus der Insel also, der es ihm ermöglichen soll, sie zu verlassen. Während Smokey nun in den 30 Jahren, in denen er unter Claudias Leuten gelebt hat, zu dem Schluss gekommen ist, dass diese allesamt egoistisch und unzuverlässig sind, bleibt Jacob optimistisch und glaubt weiterhin an das Gute in ihnen. Ein grundlegender Streitpunkt, der sich Jahrhunderte, ja Jahrtausende lang hinziehen wird.
"If the light goes out here, it goes out everywhere."
Und so kommen wir zu des Pudels Kern: Die Quelle. Das Licht. Wir können nur erahnen, was es ist (laut Der Mutter: "Life, death, rebirth. It's the source, the heart of the island."), doch es ist klar, dass es diese Quelle ist, die das Zentrum der Serie bildet und auf das letztlich alles hinauslaufen wird. Mit dieser mystischen Quelle des Lichts haben Team Darlton definitiv ein sehr passendes Element gewählt, das sich perfekt in das "Lost"-Universum einfügt. Die Insel als Ort des Lichts, als Quelle von Leben, Tod und Wiederauferstehung – das passt einfach. Und so macht alles – wenn natürlich auch auf verquere Art – absolut Sinn: die physikalischen Besonderheiten der Insel, Jacobs lange Suche nach einem Kandidaten für seine Nachfolge und letztlich auch die Entstehung des Rauchmonsters. Alles fügt sich zusammen.
Mit der intensiven Szene zwischen Smokey und Der Mutter (in der nebenbei der Ursprung des Frozen Donkey Wheels angedeutet wird) beginnt schließlich eine Kette fataler Ereignisse: Die Mutter hintergeht Smokey erneut und verhindert, dass er die Insel verlässt. Sie wählt Jacob zu ihrem Nachfolger aus und in einem wiederum sehr biblisch anmutenden Moment wird Jacobs Schicksal als Hüter des Lichts mit einem Schluck Wein besiegelt. Smokey erwacht in Rage und tötet Die Mutter, die mit einem zufriedenen "Thank You" ihren letzten Atem aushaucht. Und Jacob ist so erzürnt, dass er seinen Bruder in die Quelle befördert, wodurch Smokey schließlich zu Smokey wird. Was Smokey bereits in #6.09 Seit Anbeginn der Zeit vage andeutete, wird nun klar: "The Devil betrayed me. He took my body. My humanity." Jacob ist also verantwortlich dafür, was mit Smokey passiert ist, was die Erzfeindschaft der Brüder in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Man kann nun auch Smokeys Beweggründe mehr als nachvollziehen und eine gewisse Sympathie für ihn entwickeln.
"Goodbye brother. Goodbye."
Verrat, Brudermord, Muttermord, ein Ewiges Licht, ein tikka-tikka-tikka-machendes Rauchmonster – ja, #6.15 Übers Meer ist ein wahres Epos, das in einer genialen Schlussszene seinen Abschluss findet, als Jacob seine Mutter und seinen Bruder beisetzt. Mit dem Rückbezug zu #1.06 Die Höhle erhalten wir nicht nur eine Antwort darauf, wer Adam und Eva in Wirklichkeit waren, wir bekommen auch erneut eindrucksvoll demonstriert, wie durchdacht "Lost" ist, wie fantastisch konzipiert. Der Kreis schließt sich. Und auch wenn sich die Staffel bisher vielleicht noch nicht als ganz so stark erwiesen hat, wie die überirdischen Erwartungen der Fans es hoffen ließen, so sind es doch Folgen wie diese, die zeigen, dass "Lost" einen einzigartigen Reiz besitzt, dem eigentlich keine andere Serie das Wasser reichen kann.
Maria Gruber - myFanbase
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Informationen zur Episode
Englischer Titel: Across the SeaErstausstrahlung (US): 11.05.2010
Erstausstrahlung (DE): 11.11.2010
Regie: Tucker Gates
Drehbuch: Damon Lindelof & Carlton Cuse
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