Bewertung

Review: #1.05 Das Sandwich hat mich gerettet

Foto: Wil Traval, Marvel's Jessica Jones  - Copyright: Myles Aronowitz/Netflix
Wil Traval, Marvel's Jessica Jones
© Myles Aronowitz/Netflix

Da habe ich mich vor zwei Folgen am Ende meiner Review auf eine inhaltliche Vorhersage eingelassen, da musste ich mich auch gleich in der nächsten Episode eines besseren belehren lassen. War ich mir doch ganz sicher, dass Malcolm in seiner Form des kindlichen Verhaltens, bei ihm bedingt durch die Drogen, irgendwann von Kilgrave entführt werden wird, um Jessica Kilgraves Macht zu demonstrieren. Und bei Ruben war ich mir eigentlich ganz sicher, dass er Kilgraves Spion an ihrer Seite war. Aber dann war es doch Malcolm, der seit mehreren Monaten Jessica beobachtet und der sogar als ihr Nachbar platziert wurde, um sie auszuspionieren. Was mich an dieser Geschichte aber besonders positiv überrascht, ist wie man Malcolms Drogensucht dabei mit einbezieht und wie diese mit Kilgraves Beeinflussung verknüpft. Generell waren die Szenen des letzten Folgendrittels von #1.05 Das Sandwich hat mich gerettet, die sich einerseits mit Jessicas Beziehung und ihrem Beschütterinstinkt zu Malcolm beschäftigte, in der andererseits aber auch Kilgraves zum ersten Mal als richtiger Charakter auftauchte, unheimlich stark.

Malcolm, der bis dato ja nur als traumwandlerischer Hintergrundcharakter fungierte, wird hier plötzlich zu einer ganz wichtigen Figur, über den wir wieder einmal aus erster Hand erfahren müssen, wie fatal das Opfersein auf einen Menschen wirken kann. "Jessica Jones" ist dann besonders gut, wenn es die Serie als Metapher für Trauma und Missbrauch, aber auch für das Leben danach und den dann nötigen schwierigen Aufbau der Psyche, fungiert. Malcolms Geständnis an Jessica, dass er sich nicht sicher ist, ob er sie nur wegen der Drogen verraten hat und dass er nicht immer durch Kilgrave gezwungen war, zeigt die Tiefe seines Selbsthasses. Und dieser Selbsthass ist einerseits bei Drogenabhängigen typisch, aber auch bei Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind (beziehungsweise von Formen der Gewalt, bei denen der Täter dem Opfer nahe steht und über dieser über diese Nähe seine Opfer quält, während er ihnen einredet, sie hätten es nicht besser verdient).. Jessica mag enttäuscht von Malcolm sein, vielleicht ist sie sogar wütend auf ihn, aber sie weiß ganz genau, dass er keine Vorwürfe braucht. Er braucht ein Ziel, er braucht einen Grund, Stärke zu beweisen. Sie macht ihm dies mit wenigen einfachen Worten klar, dass er nicht für sich selbst kämpfen muss, sondern dagegen, dass er ihr indirekt weiter Schaden zufügt. Ich bin tief beeindruckt davon, wie einfühlsam und mit welchen einfachen Mitteln man dies in ihren Szenen vermittelt.

Aber nicht nur hier kann die Serie ihre feministische Grundeinstellung nicht verbergen. Abgesehen von Malcolm triefen hier die Männer nur so von toxischem Platzhirschverhalten, ob es der Macker in der Bar in den Flashbacks ist, oder auch Kilgraves abschätzige Reaktion auf Jessica, die ihre Kräfte einsetzt, um Gutes zu tun. Da findet sich das so alltägliche Verhalten von Männern wieder, die mit Begriffen wie Gutmenschen und Politischer Korrektheit um sich schmeißen, weil sie sich einfach nicht vorstellen können, das andere Menschen Dinge einfach nur deshalb tun, um sich anständig zu verhalten. Es wird immer klarer, das Kilgrave das personifizierte Böse des Patriarchats ist. Dass er die Anspruchshaltung, alle seine Bedürfnisse befriedigt zu bekommen, sowie die Selbstverständlichkeit des Fehlens von Widerspruch gegen die eigenen Worte und das eigene Verhalten, in sich vereinigt. Er geht durchs Leben und nimmt sich, was er möchte, im wahrsten Sinne des Wortes, und macht sich keine Gedanken, wie sich dies auf seine Mitmenschen auswirkt. Natürlich ist dieses Verhalten hier im absoluten Extrem dargestellt, aber die Mechanismen sind doch allzu bekannt.

Dass Kilgrave aber nicht wie eine bloße Karikatur wirkt, ist dabei dem subtilen Schauspiel von David Tennant zu verdanken. Tennant, der durchaus weiß wie man große schauspielerische Gesten anwendet, zeigt sich hier, nach dem Aufwachen aus der Narkose, von der sehr zurückhaltenden Seite. Die Versuchung, Kilgrave auch dann als immerzu zynisch und bedrohlich darzustellen, wäre da gewesen. Aber Tennant legt den unbeobachteten Kilgrave an, wie einen ganz normalen Menschen. Und auch in seiner Interaktion mit Jessica übers Telefon ist er zwar bedrohlich wie eh und jeh, dazu muss er aber gar nicht mehr zu großen Gesten greifen. Seine Macht über Jessica ist immer noch deutlich und die Frage am Ende dieser Episode ist, ob Jessica dieser Macht wieder zu erliegen droht, oder ob sie nur versucht Malcolm vor ihm zu bewahren.

Die Geschlechterdynamik spiegelt sich in dieser Episode auch in Form des Verhaltens von Will Simpson wieder. Seine Art und Weise, immer davon auszugehen, mehr über den Kampf gegen Kilgrave zu wissen als dessen beide Langzeitopfer Jessica und Trish ist typisch männlich. Großartig ist es, dass die beiden Frauen ihm das nicht durchgehen lassen, ohne aber seine Argumente komplett vom Tisch zu wischen. Insgesamt hat sich in diesem Team der Task-Force "Catch Kilgrave" eine sehr interessante Dynamik entwickelt, die sich über die ganze Episode lang aufrecht erhielt. Mir persönlich ist Will zwar noch nicht so wirklich sympathisch, aber ich möchte es einmal mit Trishs Ethos in Sachen Menschen halten: Sie vertraut ihm, und da ich ihr vertraue, erweitere ich meine positive Einstellung auch auf Will.

Das die "Catch Kilgrave"-Aktion zum jetzigen Zeitpunkt der Staffel noch nicht funktionieren konnte war klar, aber das diese aber an Faktoren gescheitert ist, die weder Jessica noch Will wissen konnten, war clever gemacht. Mit einem derart banalen Abwehrsystem wie einem privaten Sicherheitsservice haben beide nicht gerechnet. Dabei haben wir auch gelernt, dass durch die schiere Überzahl, und natürlich bedingt durch die elektrischen Taser, auch Jessica in Schacht zu halten ist.

Ein weiterer wichtige Aspekt dieser Episode waren die Flashbacks in Jessicas Leben, bevor sie ihre Kräfte zum Guten eingesetzt hat. Dabei ist der Unterschied zwischen ihr als Person damals und heute gar nicht so groß, wobei ich dies sogar eine sehr gute Entscheidung finde. Denn sie hat sich durch das Kilgrave-Trauma nicht unbedingt in ihrem gesamten Wesen geändert, sondern es haben sich gewisse Verhaltensweisen verstärkt, während sie andere wohl komplett hinter sich gelassen hat. Dabei finde ich es besonders tragisch, dass Jessica eigentlich noch gar nicht richtig begonnen hatte, ihre Stärke für etwas Gutes einzusetzen, als sie bereits von Kilgrave aufgegriffen wurde. Sie hatte gar keine Chance, sich mit den Vor- und Nachteilen eines solchen Lebens auseinanderzusetzen. Ihre Stärke wurde sofort in eine Schwäche gewandelt, damit Kilgrave sich daran ergötzen kann. Wenn man das so sieht, möchte man einfach nur ein beherztes fuck Kilgrave vor sich hinfluchen.

Cindy Scholz - myFanbase

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