Bewertung

Review: #1.08 W.W.J.D.

Foto: David Tennant, Marvel's Jessica Jones  - Copyright: Myles Aronowitz/Netflix
David Tennant, Marvel's Jessica Jones
© Myles Aronowitz/Netflix

Die letzte Folge von "Marvel's Jessica Jones" mündete in einem elektrisierenden und verstörenden Showdown, in dem sich Jessica und Kilgrave von Angesicht zu Angesicht gegenüber standen. Langsam und bedächtig wurde auf diese Konfrontation hingearbeitet, aber Kilgrave schien immer einen kleinen Schritt voraus. Nun versucht Jessica den letzten Strohhalm zu ergreifen und lässt sich auf das perfide Spiel von Kilgrave ein und geht mit ihm und ihrer Vergangenheit auf direkten Kollisionskurs. Dieses Aufeinandertreffen wird in der achten Folge nun auf brillante Weise ausgespielt, in der zunächst Abstand von der bisher dominierenden düsteren Großstadtatmosphäre genommen wird.

Jessica kehrt in dieser Folge zurück in ihr altes Elternhaus, welches von Kilgrave akribisch mit Artefakten aus ihrer Kindheit und frühen Jugend gefüllt wurde. Diese Rückkehr, Jessicas versuch damit zwei Schritte auf Kilgrave zuzugehen, um ihm dann ein Geständnis zu entlocken, welches Hope endlich entlastet, mündet in einem furiosen Psychoduell mit kammerspielartiger Atmosphäre, in der tief in die Psyche von Jessica und Kilgrave eingetaucht wird. Kilgrave wurde im bisherigen Verlauf der Serie oft als übermächtiger, allgegenwärtiger, zynischer und gesichtsloser Psychopath dargestellt, der zumeist nur durch seine Taten Sichtbarkeit erlangte. In dieser Folge wird er sukzessive vermenschlicht, ohne dabei aber seine Taten oder sein psychopathischen Grundwesen in irgendeiner Weise zu rechtfertigen. Es gelingt somit der schwierige Akt, Kilgrave durch das Entblättern seiner traumatischen Kindheit nicht Absolution zu erteilen und seine Taten und sein Wirken dadurch abzuschwächen.

Das interessante und mutige an "Jessica Jones" war und ist zu großen Teilen die Auseinandersetzung mit dem Thema Vergewaltigung, im Englischen "rape". In dieser Folge konfrontiert Jessica ihren Peiniger nun erstmals direkt und ungefiltert mit dem Begriff "rape". Sie schleudert ihm diesen Begriff förmlich ins Gesicht und macht deutlich: "It's called rape." Worauf Kilgrave entgeistert entgegnet: "I hate that word." In dieser mitreißenden Szene wird der Diskurs um Vergewaltigung und die komplexe Dynamik zwischen Opfer und Täter auf den Punkt gebracht und in Form eines Produkts der Populärkultur auf schmerzliche Art und Weise greifbar. Kilgrave verfällt in diesem Kontext schnell in einen billigen Rechtfertigungsgestus und einer simplen Psychologisierung, in der er darauf verweist, dass er durch seine Kraft der Gedankenkontrolle die Grenze zwischen freiem Willen und blanker Kontrolle kaum selbst ziehen kann und deshalb nicht einschätzen kann, ob ein gegenseitiges Einverständnis vorliegt oder nicht. Diese Art der versuchten Rechtfertigung und der Umkehrung der Opfer-Täter-Dynamik, indem sich der Täter plötzlich zum eigentlichen Opfer hochstilisiert, kommt einem aus dem öffentlichen Diskurs schmerzhaft bekannt vor. Es ist bemerkenswert, wie geschickt es den Autoren immer wieder gelingt, diese Thematik in das Gesamtnarrativ einzuflechten und deutlich Stellung zu beziehen. Allein diese Szene macht diese Folge schon zu etwas ganz wertvollem und auch über die Serie hinaus gesellschaftlich relevanten.

Doch die Autoren gehen noch weiter und tauchen immer tiefer in moralisch unbequeme Zwischenräume ein. Allein der Umstand, dass Jessica über einen längeren Zeitraum mit ihrem Vergewaltiger in einem Haus zusammenlebt, welches vollgestopft ist mit Relikten ihrer schmerzlichen Vergangenheit, ist schmerzlich anzusehen. Doch auch in diesen Momenten lässt sich Jessica nie in die Rolle des schwachen Opfers bringen, sie bleibt fokussiert, konzentriert und zielstrebig, schüttelt immer wieder die eigenen Alpträume ab und versucht Kilgraves Spiel mitzuspielen und ihm im Rahmen seiner konstruierten Umwelt zu schlagen. Ein starker Wortaustausch folgt hier auf den Nächsten und in Mitten dieses Kammerspiels offenbaren sich parallel die Narben der Vergangenheit, sowohl auf Seiten Jessicas, als auch auf Kilgraves.

In Rückblicken durchlebt der Zuschauer die Vorkommnisse, die zum schrecklichen Unfall führten, dem schließlich Jessicas Eltern und ihr zehnjährigen Bruder Philip zum Opfer fielen. Dabei zeigt sich ein recht normales und realistisches Familienleben. Zum Zeitpunkt des Unfalls war Jessica 14 Jahre alt und befand sich mitten in einer rebellischen pubertären Phase. Auf der Fahrt in den Urlaub entsteht aus einem harmlosen geschwisterlichen Disput schließlich ein schrecklicher Unfall, welcher Jessicas Familie das Leben kostet. Aus einem distanzierten Blickwinkel kann Jessica zweifelsfrei kein Vorwurf gemacht werden, doch das Gefühl der Schuld, durch ihr Verhalten den Unfall ausgelöst zu haben, kann sie nicht abschütteln, es zehrt an ihr und ist ein Umstand, mit dem sie ringt und kämpft und den sie schwerlich gänzlich verarbeiten kann.

Parallel dazu entfaltet sich wie bereits erwähnt aber auch Kilgraves Vergangenheit und es wird gezeigt, wie dessen Eltern ihn schon in sehr jungen Jahren als Versuchskaninchen missbrauchten, um wahrscheinlich seine schon damals aufkommenden Fähigkeiten irgendwie instrumentalisieren zu können. Kilgrave wird dadurch zwar menschlicher, trotzdem macht die Serie in Form von Jessica auch an verschiedenen Stellen überdeutlich, dass eine schreckliche Kindheit kein Freifahrtschein für späteres zerstörerisches Handeln darstellt und es darauf ankommt, in welcher Form die Narben der Vergangenheit später genutzt werden. Ganz geschickt wird somit auch die Thematik der Entstehung von Helden und deren Widersachern ins Spiel gebracht, um so die Konstruktion von Gut und Böse zu stellen und dabei dem Gedanken nachzugehen, in welcher Weise auch das Böse schlussendlich für das Gute genutzt werden kann.

Im letzten Drittel der Folge bekommt die Handlung also noch einen kleinen Dreh, indem Jessica Kilgrave überzeugt ein Geiseldrama aufzulösen. Aus dem Lösen dieser Konfliktsituation erlangt Kilgrave zumindest für einen kleinen Zeitraum einen etwas anderen Blick auf die mögliche Nutzbarkeit seiner Kräfte und auch Jessica gerät in einen Gewissenskonflikt, indem sie sich fragt ob es möglich ist, einer Zusammenarbeit mit Kilgrave für die gute Sache zuzustimmen. Bis zu den finalen Momente der Folge wird dieser Konflikt offen gelassen und es scheint tatsächlich kurz so, als ob Jessica sich der Allianz mit Kilgrave hingibt, bis die Ereignisse sich erneut überschlagen, Jessica Kilgrave betäubt und mit ihm verschwindet. Als kurz nach ihrem Verschwinden auch noch ein von Kilgrave initiiertes Attentat auf Will vonstatten geht, endet die dialogstarke, charaktergetriebene Episode doch noch mit einem großen Knall und viel Ungewissheit. Wird Will das Attentat irgendwie überleben können? Und was hat Jessica mit dem betäubten Kilgrave vor?

Eine Besprechung dieser Folge kann aber aber nicht enden, ohne auf die darstellerischen Leistungen von Krysten Ritter und David Tennant näher einzugehen. Ritter bleibt konstant großartig und zeigt besonders in dieser sehr auf das Innenleben der Figuren fokussierten Folge ihre darstellerische Klasse. David Tennant konnte bisher zwar auch immer wieder sein Talent aufblitzen lassen, trotzdem stand er als Person bisher immer nur schlaglichtartig im Fokus. In dieser Folge zeigt sich aber nun endlich die ganze Wirkmächtigkeit seiner darstellerischen Leistung. Es ist spannend zu sehen, wie sich das im Kopf entwickelte Bild eines grausamen Psychopathen mit dem nicht zu leugnenden Charme und der Ausstrahlung Tennants kreuzt, der hier auf eine ganz andere Art sein aus "Doctor Who" bekanntes Charisma einsetzt, um dadurch Ambivalenz herzustellen. Das Charisma des Schauspielers David Tennants vermengt sich hierdurch mit den faktischen Taten, die der Charakter des Kilgraves auch in dieser Folge wieder an verschiedenen unschuldigen Menschen verübt.

Die achte Folge bietet den vorläufigen Höhepunkt der beeindruckend mutigen und fesselnden ersten Staffel und bietet gleichermaßen ein spannendes Charakterdrama, wie auch ein zielgerichtetes Vorantreiben der übergeordneten Handlung. Die überwiegende Fokussierung auf das Aufeinandertreffen von Killgrave und Jessica Jones bietet viele denkwürdige Momente und arbeitet die Vergangenheit der zentralen Hauptfiguren auf, ohne in ein binäres Schwarz/Weiß-Schema zu verfallen. Einzig der kurz in die Folge eingestreute Nebenplot um Jeri Hogarths Scheidungskonflikt wirkt immer noch wie ein Fremdkörper im narrativen Gesamtkonstrukt. Doch auch dieser, bisher eher unspannende Nebenplot, könnte schon bald neuen Schwung erhalten durch den Umstand, dass Kilgrave über Jessicas Handy mit Jeri in Kontakt getreten ist. Die Spannung wird also weiter hochgeladen.

Moritz Stock - myFanbase

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