Bewertung

Review: #2.03 Gedächtnisschwund

Manchmal haben Autorenstreiks auch etwas Gutes. Denn wenn Vince Gilligan die von ihm für die erste Staffel von "Breaking Bad" angedachten neun Episoden auch tatsächlich hätte realisieren können, wäre ihm mit der nervenzerreißenden letzten Folge zwar ein wirklich phänomenales Staffelfinale gelungen, doch die Enttäuschung über #2.03 Gedächtnisschwund wäre nach einer monatelangen Wartezeit bei den meisten wohl noch umso größer ausgefallen. In diesen Monaten hätte man als Zuschauer nämlich viel Zeit gehabt, alle potentiellen Auswege aus Walters Lage nach und nach durchzugehen und schließlich allesamt zum Scheitern zu verurteilen. Denn so nah wie Hank davor steht, seinem Schwager auf die Schliche zu kommen, scheint das Auffliegen Walters – zumindest zum Teil – beinahe unvermeidlich.

Sicherlich kann man darüber spekulieren, ob die Episode als Staffelauftakt nicht vollkommen anders inszeniert worden wäre oder auch das ursprünglich geplante Finale der ersten Staffel womöglich ganz anders ausgesehen hätte. Im Endeffekt nützt aber alles "hätte, wenn und aber" nichts, denn was man als Zuschauer nun letztlich geboten bekommt, ist eine Episode, die zwar von ihrer emotionalen Intensität und Dialogstärke her überzeugt wie jede andere "Breaking Bad"-Episode auch, den Erwartungen, die ihr Vorgänger jedoch geschürt hat, schlicht und ergreifend nicht gerecht werden kann. Denn während man nach #2.02 In der Falle noch eine ganze Weile, sprachlos und angespannt wie Walter und Jesse bei Tuco, auf dem Sofa saß, hinterlässt #2.03 Gedächtnisschwund beim Zuschauer lediglich ein Gefühl der Ernüchterung. Mehr noch, fühlt man sich fast schon ein klein wenig veräppelt.

"It's a bold plan, Mr. White."

Und das ist noch relativ milde ausgedrückt. Walters Plan ist nämlich nicht nur höchst gewagt, sondern auch ziemlich waghalsig. Denn er besteht im Grunde darin, Jesse der DEA zum Fraß vorzuwerfen, sich selbst hingegen lediglich in der Öffentlichkeit sämtlicher Kleider zu entledigen, um als zeitweilig geistig Verwirrter ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Dort angekommen überwiegt bei Walters Familie selbstredend die Erleichterung über sein Wiederauftauchen, so dass seine frei erfundene Amnesie überhaupt nicht erst in Frage gestellt wird. Lediglich wie es zu dieser psychosomatischen Störung bei Walter kommen konnte, gilt es zu klären.

Dem Zuschauer gibt hingegen etwas völlig anderes Rätsel auf: Wieso scheint es Walter so unheimlich wichtig, seiner Familie eine an den nicht vorhandenen Haaren herbeigezogene Geschichte aufzutischen, um keinerlei Verdacht bei ihnen zu schöpfen, wenn es doch eigentlich die DEA ist, die ihm so gefährlich dicht im Nacken sitzt? Wieso hilft er stattdessen nicht lieber Jesse dabei, sämtliches potentiell belastende Beweismaterial aus dessen Keller verschwinden zu lassen? Und ist es im Fall, dass zwischen Walter und Jesse – beispielsweise durch Fingerabdrücke in Jesses Auto – ein Zusammenhang hergestellt werden kann, nicht umso mehr verdächtig, dass Walter nach zweitägigem Gedächtnisschwund ausgerechnet dann wieder auf der Bildfläche erscheint, als auch Jesse nach einem vermeintlich im Motel verbrachten Wochenende wieder auftaucht? Wäre es da nicht vielleicht sogar cleverer gewesen, seine Abwesenheit noch um ein oder zwei Tage zu verlängern?

Sicher mag da die Tatsache eine Rolle spielen, dass nach Walter bereits eifrig gesucht wird, während Jesse keiner wirklich vermisst, aber das völlige Abschieben der Verantwortung auf Jesse wirkt – kurioserweise – gleichermaßen selbstsüchtig wie -zerstörerisch, um nicht zu sagen völlig out of character. Zwar könnte man Walters Verhalten auch als längst überfälligen Vertrauensbeweis Jesse gegenüber auslegen, doch die Tatsache, dass der sonst so übervorsichtige "Heisenberg", sein Schicksal in die Hände von Jesses fadenscheinigen Freunden legt, widerspricht vollkommen Walters Naturell.

"They need probable cause. I'm giving it to them."

Noch rätselhafter als Walters Plan an sich ist hingegen wie bereitwillig Jesse diesen auch umsetzt und entgegen seiner Art gar nicht sonderlich zu widersprechen scheint, was insbesondere deswegen verwunderlich ist, weil der Erfolg der gesamten Aktion allein von ihm abhängt. Denn bei Walter Plan ist Jesse – um es mal profan auszudrücken – schlicht und ergreifend der Arsch. Er ist es, der vor seinem eigenen Haus aufpassen muss, dass er nicht von der Polizei erwischt wird, der sich mit Badger und dessen Cousin herumschlagen muss, der sich selbst der DEA ausliefern und den nagenden Fragen von Hank unterziehen muss, der kurz davor steht, aufzufliegen, und letztlich zu allem Übel auch noch sein gesamtes Geld verliert.

Wie Jesse letztlich heil aus der ganzen Angelegenheit herauskommt, grenzt nahezu an ein Wunder. Aber so erstaunlich es auch ist, dass der sonst so oft als nervliches Wrack dargestellte Jesse plötzlich die Ruhe selbst ist und seinen Part in Walters Plan nahezu perfekt erfüllt, so übersteigt es fast schon jegliche menschliche Vorstellungskraft, wie stümperhaft sich der bislang immer so geistesgegenwärtige Hank und seine DEA-Kollegen in diesem Fall anstellen. Denn anstatt einfach mal eins und eins zusammenzuzählen oder wenigstens den Tatort der Schießerei mit Tuco samt dessen Haus auf Spuren zu untersuchen, die sie unweigerlich zu Jesse und Walter führen würden, bringen sie lieber einen an den Rollstuhl gefesselten, nicht mehr artikulierungsfähigen alten Mann ins meilenweit entfernt liegende DEA-Büro, in der vagen Hoffnung, er könnte Jesse identifizieren.

"Are we on the planet Earth?" – Ding!

So widersinnig der Auftritt von Tucos Onkel Tio in der Folge allein vom logischen Aspekt aber auch scheint, gehörte er zweifellos nicht nur zu den spannendsten Szenen der gesamten Folge, sondern auch zu den amüsantesten. Denn so sehr Jesse einem in der scheinbar ausweglosen Situation auch leidtun mag, kann man sich bei dem ultimativen Demenztest, den Hanks Kollege Gomez da mit dem finster dreinblickenden alten Mann durchführt, ein Grinsen einfach nicht verkneifen. Allgemein ist es wirklich erstaunlich, welch immense dramatische wie auch humoristische Wirkung so eine simple Klingel haben kann. Was jedoch nicht nur den Zuschauer, sondern auch Jesse erstaunt, ist, dass Tio ihn nicht verpfeift, sondern vielmehr jegliche Kooperation mit der DEA verweigert. Das Motiv hinter seinem Schweigen bleibt unklar. Zwar scheint Gomez' Erklärung, dass Tio als Oldschool-Gangster einfach aus Prinzip nicht der Polizei aushilft, durchaus plausibel, doch drängt sich gleichzeitig auch unweigerlich die Frage auf, ob Tio insgeheim nicht womöglich schon einen ganz anderen, persönlichen Racheplan schmiedet.

Wie dem auch sei, wird Jesse letztendlich aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen, muss sich jedoch von seiner Tasche voller Geld, die aus völlig unerklärlichen Gründen nicht auf Fingerabdrücke oder DNA-Spuren untersucht wurde, schweren Herzens trennen. Walter scheint dies aber überhaupt nicht zu interessieren und will nur wissen, ob sein Plan funktioniert hat. Wenn man an die vielen anderen, zum Teil wesentlich weniger verzwickten Krisensituationen der beiden zurückdenkt, wundert man sich schon ein wenig, dass Jesse Walters grenzenlosen Egoismus hier lediglich mit einem ironischen "Thanks for caring" abtut und nicht explodiert. Denn dazu hätte er nach allem, was er durchgemacht hat, eigentlich alles Recht der Welt. Doch an Walter scheint das alles völlig abzuperlen, hat er doch selbst ganz andere Sorgen.

"Doctor, my wife is seven months pregnant with a baby we didn't intend. My 15-year-old son has cerebral palsy. I am an extremely overqualified high school chemistry teacher... and within 18 months, I will be dead. And you ask why I ran?"

Die vorgespielte Amnesie befreit Walter zwar von jeglichem Erklärungszwang, stellt ihn jedoch vor das Problem, dass er nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden kann, bevor nicht komplett ausgeschlossen werden kann, dass sich der Vorfall wiederholt. Und da sämtliche Untersuchungen der Ärzte verständlicherweise ergebnislos bleiben, muss sich Walter in psychiatrische Behandlung begeben, was für eine der fesselndsten Szenen der gesamten Folge sorgt. Denn Walter weiß natürlich, dass dies nichts bringt und gesteht seinem Psychiater daher, natürlich unter Berufung auf die ärztliche Schweigepflicht, die Wahrheit. Oder besser gesagt: die Teilwahrheit. Walter nutzt die Gelegenheit, die sich ihm hier bietet, sich seine Probleme und Gewissensbisse von der Seele zu sprechen, nämlich nicht, sondern gibt stattdessen lieber einfach bloß den frustrierten Familienvater, der für ein einziges Wochenende mal seine Ruhe haben wollte. Was genau diese Szene mit dem Psychologen dabei so unheimlich interessant macht, ist zum einen die Tatsache, dass Walter sich allem Anschein nach bereits so sehr an das Lügen gewöhnt hat, dass er auch hier wieder darauf zurückgreift, obwohl er es eigentlich nicht muss, und zum anderen, dass in seiner Lüge gleichzeitig auch ganz viel Wahrheit steckt.

Im Gespräch mit Skyler hingegen, die ihren heimgekehrten Mann zuhause schließlich geradeheraus fragt, ob er ein zweites Handy besitzt, lässt Walter die Wahrheit gänzlich außen vor. Als Zuschauer fasst man sich da natürlich an den Kopf und kann überhaupt nicht nachvollziehen, wie Walter den Besitz eines zweiten Telefons angesichts einer derartigen "Beweislage", die deutlich gegen ihn spricht, nicht nur weiterhin vehement abstreiten kann, sondern noch dazu nicht einmal in der Lage scheint, Skyler eine vernünftige Notlüge aufzutischen. Doch der Naivität Walters scheinen in diesem Zusammenhang keinerlei Grenzen gesetzt. Schon allein wie er durch einen ironischen Wink auf seinen Supermarkt-Strip meint, Skyler all ihre Sorgen und Zweifel nehmen zu können, zeugt davon, dass Walter bereits jeglichen Bezug zur Realität verloren zu haben scheint.

"So you still wanna cook? Seriously?" – "What's changed, Jesse?"

Die Auswirkungen seines Handelns sind Walter scheinbar immer noch nicht so ganz bewusst, genauso wenig wie ihm klar zu sein scheint, wie kurz er davor stand, durch das ganze Tuco-Debakel tatsächlich aufzufliegen. Anders lässt sich zumindest nicht erklären, weshalb Walter direkt wieder mit dem Meth-Kochen anfangen will und aus der ganzen Geschichte, offenbar im Gegensatz zu Jesse, keinerlei Lehre gezogen hat. Lediglich als Walter sich nachts in sein eigenes Zuhause schleichen muss, um sein Geld und Jesses Waffe zu verstecken, und dabei beobachten muss, wie Skyler und Walter Jr. wegen ihm beide nicht schlafen können, scheint er zu realisieren, was er seiner Familie da eigentlich antut. Und trotzdem sieht er einfach keinen anderen Ausweg. Denn wie es im The Be Good Tanyas-Cover von Townes Van Zandts "Waiting Around to Die" auf Walters Rückweg zum Krankenhaus so schön heißt: "Sometimes I don't know where this dirty road is taking me, sometimes I don't know the reason why, so I guess I keep on gamblin'... It's easier than just waiting around to die."

Fazit

Die Messlatte lag nach der phänomenalen letzten Folge sicherlich hoch. Dennoch ist die etwas ernüchternde Auflösung der Tuco-Storyline nicht allein auf überhöhte Erwartungen zurückzuführen. Vielmehr sind es die zahlreichen Ungereimtheiten, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen und es einem unmöglich machen, den Eindruck loszuwerden, dass Walter und Jesse nie und nimmer so einfach hätten davonkommen dürfen. Dass die Folge vor allem aufgrund ihre genialen Dialoge trotzdem noch derart zu fesseln weiß, dass man über das ein oder andere Logikloch bereit ist, hinwegzusehen, zeugt einmal mehr von der Qualität der Serie.

Paulina Banaszek - myFanbase

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