Bewertung

Review: #6.01 Los Angeles (1)

Genießt es, liebe Losties. Genießt es ein allerletztes Mal, dieses Gefühl angenehmer Verwirrung, das nur ein "Lost"-Staffelauftakt verursachen kann. Mit #6.01 Los Angeles (1) ist die Serie in die finale Runde gestartet und noch nie war die Vorfreude auf eine Staffel so groß. Nachdem wir fünf Jahre unseres Lebens in dieses bahnbrechende Phänomen namens "Lost" investiert, mitgefiebert, mitgelitten und mitgerätselt haben, ist es jetzt soweit: Der Anfang vom Ende von "Lost" hat begonnen – und was uns diese Episode bietet, zeigt deutlich, dass Damon Lindelof und Carlton Cuse uns eine Staffel liefern werden, die uns den Atem rauben wird.

"Thank you so much for flying Oceanic Air."

Wo waren wir also stehengeblieben?

Ach ja, genau: BOOM.

Weißer Bildschirm. Schwarzer LOST-Schriftzug. Und dann... oh happy day! Strahlender Sonnenschein, blauer Himmel und ein Jack Shephard, der sich auf dem Flug Oceanic Air 815 von Sydney nach Los Angeles den Orangensaft aufpunscht.

Es scheint, als hätte die Explosion der Bombe die Realität tatsächlich verändert – doch gleichzeitig sitzen die Losties am implodierten Hatch (mehr dazu später). Diese reichlich verwirrende Situation ist bislang noch völlig unerklärlich, aber sie ist nichtsdestotrotz unwahrscheinlich faszinierend. Es ist ein "Was wäre wenn"-Szenario der Extraklasse. Was wäre wenn der Vorfall nie passiert wäre, das Hatch somit nie gebaut worden wäre und der Flug sicher in Los Angeles gelandet wäre? Das Leben der Oceanic-Passagiere hätte einen völlig anderen Lauf genommen und die Veränderung reicht bei manchen sogar über den Zeitpunkt des Fluges hinaus. Hurley wäre kein Pechvogel mehr, sondern ein richtiger Glückspilz, Desmond würde nicht drei Jahre seines Lebens auf der Insel verbringen, Locke würde seinen Walkabout tatsächlich durchziehen (oder?), und Boone würde Shannon in Australien zurücklassen. Alles wäre anders.

"Was wäre wenn" ist die große Frage, die man in dieser sechsten Staffel erforschen will. Nach dem Finale der fünften Staffel war klar, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder, Jacks Plan geht auf oder er scheitert. Team Darlton überraschen uns nun aber mit einer dritten Möglichkeit, mit der niemand gerechnet hätte: nämlich den so genannten "Flashsideways". Anstatt sich für eine Variante zu entscheiden, zeigen sie uns beide. Wie wären die Dinge gelaufen, wäre Oceanic Air 815 nicht abgestürzt? Diese Storyline bildet das neue zentrale Mysterium der sechsten Staffel und verspricht schon jetzt einige Highlights. So ist etwa die Neuumsetzung des Oceanic-Flugs schlichtweg packend und unglaublich detailgetreu. Man hat einfach an alles gedacht: Die Sitzordnung, die Passagiere (Charlie! Boone! Edward Mars! Arzt! Claire? Michael? Walt?), die Kleidung, Jins Rolex, Arzts Biologiebuch, Greg Grunbergs Stimme (!) als Pilot, ja sogar Jacks mittlerweile eigentlich grauer Haaransatz ist wieder makellos. Gekrönt wird das ganze durch hervorragende Dialogsituationen, die vor allem deshalb so großartig sind, weil wir im Hinterkopf den anderen Zweig des "Was wäre wenn" genau kennen. Fantastisch, wie Rose Jack mit einem "It's normal. My husband said that planes wanna stay in the air." zu beruhigen versucht, was damals genau umgekehrt war. Fantastisch, wie Locke und Boone ins Gespräch kommen und dabei in nur kurzer Zeit genau dieselbe Mentor-Schüler-Dynamik entwickeln, wie in Staffel 1 ("If this thing goes down, I'm sticking with you."). Fantastisch, wie Jack mit Sayids Hilfe Charlie das Leben retten kann und dieser sich mit einem vielsagenden "You should've let that happen, man. I was supposed to die." bedankt. Einfach fantastisch.

In dieser "anderen" Realität landet das Flugzeug trotz Turbulenzen schließlich sicher in Los Angeles. Die Passagiere gehen ihre Wege und verlassen den Flieger. Kein Hatch, kein Absturz, keine Insel. Denn all die Zeit über ist die Insel, inklusive Dharmaville, irgendwo in den Tiefen des Ozeans verschollen.

"What do you say, Doc, got another great idea to save Sayid? Maybe there's a nuke laying around."

Im Jahr 2007 aber – aus Sicht der vorherigen Ereignisse drei Jahre in der Zukunft, falls dieses Wort überhaupt noch irgendeine Bedeutung in dieser Serie hat – existiert das Hatch. Jack, Kate, Sawyer, Sayid, Hurley, Miles, Jin und Juliet wurden durch die Zeit katapultiert und es scheint, als hätte sich nichts verändert. Hat die Explosion also doch nichts gebracht?

Die Frage wird vorerst zweitrangig, denn zunächst gilt es, Leben zu retten – doch vergebens. Sawyer muss ein zweites Mal mit ansehen, wie seine Juliet stirbt und die Tragik dieses Moments ist einfach erschütternd. Mit Juliet stirbt Sawyers Hoffnung auf das beschauliche Leben, das er in den vergangenen drei Jahren in Dharmaville führte, auf ein Leben mit seiner großen Liebe (sorry, Kate). Sawyer hat alles verloren und macht dafür zu Recht Jack verantwortlich, dessen scheinbar falsche Überzeugung Juliet das Leben kostete. Es wird spannend, was dies nun für die Feind-Freundschaft von Jack und Sawyer bedeutet und vor allem natürlich für die verzwickte Liebessituation von Jack, Sawyer und Kate.

Auch Sayid liegt nach dem Bauchschuss im Sterben, aber es besteht Hoffnung: Denn plötzlich taucht niemand anderer als Jacob (!) auf, frisch gestorben, der Hurley anweist, Sayid zum Tempel zu bringen. Jep, der Tempel, dank dem auch Ben von den Toten auferstanden ist und den Jin im Jahr 1988 mit Danielles Team besucht hatte. Was ist so besonders an Sayid, dass Jacob höchstpersönlich sein Leben zu retten versucht? Und was ist der Tempel eigentlich?

"I'm sorry you had to see me like that."

Vom Tempel zur vierzehigen Statue: Nach Jacobs Tod ist Ben in totaler Schockstarre, während "Locke" seelenruhig einen Fetzen aus einem von Jacobs Teppichen schneidet (?). Außerhalb der Statue streitet sich Richard derweil mit Ilanas Leuten, nachdem sie Lockes Leiche entdeckt haben. Panik. Chaos. Totaler Ausnahmezustand. Und es kommt besser.

Denn was sich später innerhalb der Statue abspielt, ist einfach phänomenal. Das große Geheimnis um Smokey, wie "Lost"-Fans das Rauchmonster liebevoll nennen, wird nach sage und schreibe 103 Episoden gelüftet: Smokey ist nichts anderes als eine Manifestierung von Jacobs Erzfeind, derzeit als "Locke" unterwegs, der damit alles kurz und klein schlagen kann. Smokelocke tötet Ilanas Leute eiskalt, wirft sie umher, spießt sie auf – und verschont als einzigen Ben. Im Nachhinein macht Bens Aufeinandertreffen mit Smokey in Form von Alex damit natürlich komplett Sinn, denn so konnte Smokelocke Ben dazu bringen, "Locke" uneingeschränkten Gehorsam zu leisten, was wiederum darin endete, dass Ben Jacob im Auftrag Smokelockes tötete. Brillant und mal wieder faszinierend, wie absolut kohärent die gesamte Story von Anfang bis Ende ist.

Der Anfang vom Ende also. 18 Episoden warten noch auf uns und #6.01 Los Angeles (1) ist nur ein Vorgeschmack darauf, was uns in diesen erwartet. Alles an diesem Staffelauftakt war grandios und vereinte das, was "Lost" so gut kann: Packendes Charakterdrama und verwirrend-logische Mystery, emotionale Gänsehautszenen und Momente der Entgeisterung. Die Flashsideways wurden dabei geschickt in das Geschehen eingebunden und versprechen eine hochinteressante Parallelstory, bei der wir uns noch nicht darauf festlegen sollten, dass sie nur einen möglichen Verlauf der Geschehnisse darstellt, sondern vielmehr mit den Ereignissen auf der Insel verbunden ist. Denn wie es so schön heißt: Everything happens for a reason.

Auf die Gefahr hin, dass ich als hoffnungslos ergebener Fan dieser Serie jeder Episode der finalen Staffel die volle Punktzahl gebe, beginne ich mit 8 von 9 Punkten für diesen Auftakt. Schließlich muss ja noch Luft nach oben sein. Und wie wir in der Vergangenheit gesehen haben, schafft "Lost" es immer wieder, sich selbst zu toppen. Nun genießen wir aber erstmal diesen einmaligen Zustand wunderbarer Verwirrung, denn das heißt: "Lost" ist zurück. Endlich.

Maria Gruber - myFanbase

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