Review: #15.19 Stumme Schreie
Beklemmend. Schwierig. Verstörend. Einprägend. Wichtig. Diese Folge vereint all diese Eindrücke und vermag es so, mitzureißen und zu überwältigen – so unglaublich schmerzhaft sind die Schicksale, die uns gezeigt werden, so berührend und sensibel gespielt und dargestellt. Nach einer kleinen schwächelnden Phase hat sich "Grey's Anatomy - Die jungen Ärzte" wieder nach oben katapultiert und präsentiert eine unglaublich starke und bedrückende Folge, die noch lange nachhallen wird.
Das ist natürlich vor allem der Verdienst von Camilla Luddington, die erneut in dieser Folge unter Beweis stellen kann, was sie schauspielerisch auf dem Kasten hat: Gekonnt zeigt sie uns Jos emotionales Chaos, in das sie stürzt, sobald sie vor der Tür ihrer Mutter steht. Es muss einfach unglaublich schmerzhaft für Jo sein, das scheinbar bilderbuchartige Vorstadtleben ihrer Mutter zu sehen, ihre Geschwister zu hören, ihren Stiefvater kennenzulernen, nachdem sie all die Jahre allein verbracht hat und eine unglückliche Kindheit hatte. So sind Jos Wut und ihre Vorwürfe, ihr "fire in her belly", Vicki gegenüber nachvollziehbar, obwohl diese aus der Retrospektive etwas unfair erscheinen.
Denn Vicki hat Jo nicht aus Egoismus an der Feuerwehrstation zurückgelassen oder weil sie Jo nicht geliebt hat. Vicki wurde von ihrem Tutor vergewaltigt und wurde dadurch schwanger. Trotz all ihrer Mutterliebe und ihrer Bemühungen, Jo in ihrem Leben zu behalten, war das Trauma für Vicki zu groß, um eine Mutter für Jo zu sein. Vickis Erzählung ist mehr als verstörend; es war immer wieder eine Überwindung für mich, ihr zuzuhören, mich dieser Geschichte nicht zu verschließen, weil das, was sie schildert, mich so mitgenommen und aufgewühlt hat. Ihre schmerzhaften Erinnerungen, die sie nie ganz losgelassen haben und die sie komplett verändert haben, werden von Michelle Forbes so hervorragend dargestellt, dass hier kein Auge trocken bleiben kann. Gerade der Augenblick, in dem Jo ihre Hand nach Vicki ausstreckt und versucht, diese zu trösten, und Vicki rasch ihre Hand wegzieht, ist mir dabei im Gedächtnis geblieben. Jos Wunsch nach Familie wird unerfüllt bleiben, Vicki will sie nicht in ihrem Leben haben.
So ist Jos Vergangenheit, die seit ihrem ersten Auftritt ein großes Rätsel darstellte und immer wieder für Theorien sorgte, nun noch um einige Grade tragischer und schmerzreicher geworden. Nicht nur, dass Jo selbst Opfer von Missbrauch und Nötigung durch Paul wurde, sie selbst ist ein Produkt einer solchen Gewalt. Ich kann mir nicht ausmalen, was das für einen Menschen bedeutet und Camilla Luddington schafft es, Jos Zerrissenheit und Schmerz so sensibel und eindringlich darzustellen, dass man zumindest eine Ahnung davon bekommt. Eine weitere Parallele zwischen Jo und ihrer Mutter steht auch die Abtreibung dar, die Jo nach einem weiteren Vorfall mit Paul unternommen hat – in einem vergleichbaren Moment hat Jo eine Entscheidung getroffen, die nicht das Leben eines Kindes nachhaltig beeinträchtigt hat. Vicki hat sicherlich das Beste für Jo gewollt, doch dass Jo ähnliche Erfahrungen durchmachen musste, ist ein weiterer Fall von tragischer Ironie, die so typisch für diese Serie ist.
Jos Entwicklung wird auf jeden Fall nun ziemlich spannend werden; der Schock sitzt augenscheinlich unglaublich tief und sie weigert sich, sich Alex anzuvertrauen und distanziert sich deutlich von ihm. Für Alex ist das natürlich schwierig, immerhin versucht er für seine Ehefrau da zu sein und vielleicht ist es auch unfair von Jo, Alex aus ihren Problemen auszuschließen. Allerdings habe ich das eher so verstanden, dass Jo einfach noch nicht in der Lage ist, zu überwältigt ist, um diese Erfahrung wirklich verarbeiten zu können. Jo braucht erst einmal Zeit und Ruhe, doch auf kurz oder lang, dessen bin ich überzeugt, wird sie mit Alex reden. Ich bin gespannt und hoffe auf eine emotionale Storyline, die uns genauso bewegen kann, wie es diese Folge getan hat.
Mit Patientin Abby werden die Erlebnisse von Vicki kontrastiert und wir erleben an ihr hautnah, wie ein sexueller Missbrauch von einem Moment auf den anderen alles ändern kann. Dies wird zum einen geschickt mit visuellen und auditiven Mitteln dargestellt, die uns die Geschehnisse aus Abbys Wahrnehmung präsentieren, wodurch männliche Figuren wie DeLuca plötzlich zu Feindbildern avancieren und alles zu fern erscheint, wodurch ein Gefühl von Hilflosigkeit und Einsamkeit vermittelt wird. Zum anderen legt die eher unbekannte Darstellerin von Abby, Khalilah Joi, eine grandiose und mitreißende Leistung hin, die sich keineswegs hinter der von Camilla Luddington verstecken muss. Sie vermag es, Abbys direktes Trauma so einprägend darzustellen, dass man einerseits ihre Erzählung kaum ertragen kann, gleichzeitig aber auch nicht wegsehen kann und einfach nur noch tiefstes Mitleid mit ihr verspürt.
Jo zeigt sich hier aber auch als hervorragende Ärztin: Nicht einmal lässt sie Abby alleine und hält bei jedem Schritt, bei jedem Eingriff ihre Hand, damit Abby sich nicht länger allein fühlen muss. Jo kämpft für Abby zu einem Zeitpunkt, an dem diese selbst nicht dazu in der Lage ist und schafft es so, für Abby die bestmögliche Behandlung zu erhalten. Es ist Jos Einsatz zu verdanken, dass Abby sich dem schmerzhaften Vorgang der Erstellung eines Rape-Kits unterziehen lässt und so schlussendlich in der Lage ist, ihren Vergewaltiger strafrechtlich zu verfolgen. Jos Verhalten überschreitet durchaus Grenzen, doch ihr Einsatz und ihre Verbindung zu Abby berühren viel mehr, als dass ich das groß in Frage stellen möchte. Die Erstellung des Rape-Kits war für mich bereits eine hochemotionale, aufwühlende Szene, doch das demonstrative Bereitstehen der weiblichen Belegschaft für Abby hat das ganze nochmal übertroffen. Wenn man dann noch liest, dass weibliche Cast- und Crewmitglieder von "Grey's Anatomy" unbedingt bei dieser Szene dabei sein wollten und dafür in Kauf nahmen, keine Bezahlung an diesem Tag zu erhalten, beweist das wieder, wie bewusst sich die Serie politisch relevanter Themen ist und wie geschickt sie darin ist, diese behutsam und sensibel zu behandeln.
Teddy und Jo stellen dabei ein gutes Team dar und obwohl es mich im ersten Moment gewundert hat, warum Jo nach Teddy und nicht nach Meredith verlangt hat, so verstehe ich die Entscheidung der Autoren, Teddy hier einzusetzen. Mit ihrer Schwangerschaft wird Jos Schicksal noch einmal deutlicher hervorgehoben und ihre schwere Kindheit mit der wohl glücklicheren Kindheit von Teddys Tochter kontrastiert. Teddys zunächst leise Kritik, aber später Verständnis und Anerkennung für Jos Taten haben mir auch sehr gefallen und hat mir Teddy, die in dieser Staffel sowieso zu meinen Favoriten zählt, noch ein Stückchen mehr sympathischer gemacht.
Ein weiteres kleines Highlight dieser Folge ist die kleine Geschichte um Bailey und Ben, die perfekt zu den Ereignissen rund um Jo eingewoben wurde. Die beiden müssen damit zurechtkommen, dass Tuck langsam erwachsen wird und zu daten beginnt, was vor allem Bailey etwas zu schnell geht. Ben erweist sich hier aber als großartiger Vater für Tuck und erklärt ihm, mit einer einfachen Sportmetapher, wie man respektvoll und verantwortungsvoll mit den Gefühlen seines/r Partner/In umgeht. Gerade im Anbetracht der Ereignisse dieser Folge hoffe ich, dass diese Metapher bei sämtlichen Zuschauern der Serie auf Resonanz stößt.
Lux H. - myFanbase
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Informationen zur Episode
Englischer Titel: Silent All These YearsErstausstrahlung (US): 28.03.2019
Erstausstrahlung (DE): 31.07.2019
Regie: Debbie Allen
Drehbuch: Elisabeth R. Finch
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