Bewertung

Review: #6.07 Dr. Linus

Wenn eine "Lost"-Episode den verheißungsvollen Titel #6.07 Dr. Linus trägt, ist eigentlich alles klar. Denn schließlich wissen wir schon lange: Ben-zentrische Folge = Bombenfolge. Nach den phänomenalen Ben-Episoden #3.20 Der Mann hinterm Vorhang, #4.09 Konturen der Zukunft und #5.12 Tot ist tot reiht sich auch diese Folge nahtlos ein in die Sequenz an herausragenden Serienhöhepunkten, für die Benjamin Linus, zweifellos einer der komplexesten und beeindruckendsten TV-Charaktere überhaupt, stets zu sorgen weiß. So, und jetzt bitte alle einmal niederknien vor Michael Emerson, meinem persönlichen Schauspielgott.

"I'm sorry that I killed Jacob. I am, and I do not expect you to forgive me because... I can never forgive myself."

Er ist einfach ein begnadeter Mime, dieser Michael Emerson. Mit nahezu unheimlicher Brillanz vollbringt er das Kunststück, einerseits Ben typisch intrigant und manipulativ zu verkörpern, und andererseits seine innere Sehnsucht nach Zugehörigkeit und seine Schuldgefühle so überzeugend rüberzubringen, dass man für diesen (Massen-)Mörder problemlos aufrichtiges Mitleid empfindet. Die Vielschichtigkeit des Ben Linus ist, neben der großartigen Konzeption der Drehbuchautoren, nicht zuletzt Emersons genialem Schauspiel zu verdanken.

So kehrt die Gruppe also zum Strand zurück, doch die Umstände könnten denkbar besser sein. Nach dem Rambazamba im Tempel und der allgemeinen Bekanntmachung, dass es Ben war, der Jacob tötete, ist die Situation – milde ausgedrückt – angespannt. Ben versucht vergebens, sich mit ein paar netten Worten hier und da irgendwie Sympathiepunkte bei den Mitgliedern seiner Gruppe zu erlangen, doch der Zug ist abgefahren. Ben ist zum Außenseiter, zum Verstoßenen geworden. Nur Frank lässt sich auf eine Unterhaltung mit ihm ein, bei der man wunderbar zeigt, wie Ben sich nach der Zeit zurücksehnt, in der noch alles in Ordnung war, er sich mit seinem Buchclub in Dharmaville traf und die uneingeschränkte Machtposition besaß. Frank allerdings sollte mal mehr zu tun bekommen, als alle Jubeljahre ein paar kecke One-Liner rauszuhauen, denn bislang hat er noch nicht wirklich einen Zweck.

Erstmals seit Jacobs Tod sehen wir außerdem, wie emotional am Boden Ilana wirklich ist, die mit Jacob nicht nur ihren Mentor, sondern auch ihre Vaterfigur verlor. Dass sie nun in Rage Ben dazu bringt, sich das eigene Grab zu schaufeln, ist daher absolut nachvollziehbar. Ben findet sich daraufhin am Strandfriedhof wieder und fängt an zu buddeln. Und es ist zu herrlich, wie er wieder in alte Verhaltensmuster zurückfällt und Miles 3,2 Millionen Dollar dafür anbietet, wenn er ihn loskettet. Dumm nur, dass Miles mit Toten kommunizieren kann und es bereits auf Nikkis und Paolos Diamanten in Wert von acht Millionen abgesehen hat.

Doch da tritt Smokelocke auf den Plan und packt Ben genau da, wo seine Schwachstelle ist: sein Verlangen nach Macht. Er bietet an, ihm das zu geben, nach dem er sich zurücksehnt, nämlich die Machtposition auf der Insel zu besitzen. Und erneut rückt eine scheinbar simple Entscheidungsfrage in den Vordergrund: Wird sich Ben für oder gegen das Angebot entscheiden – für oder gegen die Macht? Eine Frage, die parallel in den Flashsideways gleichermaßen gestellt und beantwortet wird.

Ben denkt nicht lange nach, flitzt los und steht schließlich Ilana mit einem Gewehr im Dschungel gegenüber. Was folgt, ist eine der besten Szenen, die diese Staffel bislang zu bieten hatte. Bens Geständnis und sein Versuch, sich vor Ilana zu rechtfertigen, ist zu keinem Zeitpunkt unpassend, kitschig oder abwegig, sondern vielmehr die Charakterstudie eines gefallenen Anführers, der den durch ihn verschuldeten Tod seiner Tochter und den ebenfalls durch ihn verschuldeten Mord an dem Mann, für den er alles geopfert hatte, nicht verkraften kann. Emerson ist einfach völlig spektakulär in diesem Moment. Doch auch Zuleikha Robinson gebührt ein Lob, denn sie kann Ilanas unerwartete Reaktion derart überzeugend darstellen, dass man sie als Zuschauer versteht. So entscheidet sich Ben letztlich gegen Smokelocke und gegen die Macht – und hat damit einen gewaltigen Schritt in seiner Entwicklung vollzogen.

"It's Dr. Linus, actually."

Auf eindrucksvolle Weise wird die Inselstoryline auch diesmal mit den Flashsideways verwoben. Die Anspielungen, die in der parallelen Realität immer wieder auf den "echten" Ben gemacht werden, mögen dem ein oder anderen vielleicht zu offensichtlich gewesen sein, doch ganz ehrlich: Ich fand's großartig. Bens Unterrichtsstunde über Elba und Napoleon, dem Mann, der nie damit zurecht kam, seine Macht verloren zu haben; wie Roger Linus sich an Dharma zurückerinnert und sinniert, was wohl aus Ben geworden wäre, wären sie auf der Insel geblieben; Arzts geniale Aussage "Linus, you're a real killer"... Adam Horowitz und Edward Kitsis können sich keine Seitenhiebe auf den Insel-Ben verkneifen und sorgen damit für so manch wunderbare Dialogzeile.

In der alternativen Realität ist Bens Leben tatsächlich komplett anders verlaufen: Er ist Lehrer geworden – ein Beruf, der erstaunlicherweise unglaublich gut zu ihm passt – und hat überhaupt nichts zu sagen. Sein Vorgesetzter Reynolds schiebt ihm regelmäßig die unbeliebte Aufsicht über die Nachsitzer zu und daheim hat er seinen kranken Vater zu pflegen. Die Ironie dieser Situation: In der "echten" Zeitlinie tötete Ben seinen Vater (und ganz Dharmaville) mit einem tödlichen Giftgas, in der alternativen Realität erhält er ihn mit einem Sauerstofftank am Leben.

Auch herrlich ironisch ist die Tatsache, dass es ausgerechnet Aushilfskraft John Locke ist, der in Ben die Idee erweckt, Direktor Reynolds zu stürzen und die Macht an sich zu reißen. Unerwartete Hilfe bekommt er von einer gewissen Schülerin namens Alex Rousseau, die ihm ein pikantes Geheimnis über Reynolds erzählt. Es ist schön zu sehen, wie Ben und Alex auch in der Parallelzeitlinie ein ganz besonderes Vertrauen zueinander haben, vor allem, da Alex letztlich der Grund ist, wieso sich Ben gegen Reynolds' Position, gegen die Macht entscheidet. Ein Entschluss, den der "echte" Ben damals nicht fassen konnte und damit Alex' Todesurteil unterschrieb. Diesen Fehler begeht Alterna-Ben nicht – und er ist glücklich damit. Ben ist es gewährt, die richtige Entscheidung zu treffen und letztlich ist er sogar so zufrieden, dass er seinem Kollegen Leslie Arzt seinen Parkplatz übergibt.

"Why do I want to die? Because I just found out my entire life had no purpose."

Ob es ein Zufall ist, dass Arzt genau in der Episode sein Comeback feiert, in der wir zu seinem Todesort, der Black Rock, zurückkehren? Sicherlich nicht. In einem hervorragend integrierten und wahnsinnig spannenden Nebenplot treffen Jack und Hurley unerwarteterweise auf Richard, dessen Aufenthaltsort in den letzten 24 Stunden vorerst mysteriös bleibt. Nach Jahren des Rätselns erfahren wir dafür endlich, wieso Richard nicht altert: Es ist ein Geschenk – oder vielmehr Fluch – Jacobs. Gleichzeitig können wir annehmen, dass Richard, seinem Verhalten und seinen Aussagen nach, tatsächlich mit der Black Rock auf die Insel kam und wahrscheinlich ein Sklave auf dem Schiff war.

Richard befindet sich auf einer ganz individuellen Mission: Er will sterben. Nach Jacobs Tod ist der Sinngehalt seines Lebens wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen und Richards Bestimmtheit, sterben zu wollen, kann Nestor Carbonell außerordentlich gut vermitteln. Richard wirkt nie verzweifelt, wütend oder ratlos, sondern agiert mit der Weisheit eines 100-nochwas-jährigen, der den endgültigen Entschluss gefasst hat, seiner Existenz ein Ende zu setzen. Carbonell glänzt in seiner Screentime und lässt den Zuschauer inständig hoffen, dass ein Richard-Flashback (nicht Flashsideway) noch wahr werden wird.

Dass nun Jack sich tatsächlich dazu bereit erklärt, Richard bei seinem Selbstmordversuch zu helfen, spricht Bände. Jack ist schließlich Arzt, sein Job ist es, Leben zu retten – doch Jack hat das Ereignis im Leuchtturm verändert. Die Existenz Jacobs steht für ihn nun außer Frage und noch mehr, Jack fordert sein Leben sogar heraus, als er das Dynamit anzündet und sich direkt daneben setzt. Denn er ist überzeugt, dass er eine Bestimmung hat, eine Bestimmung durch Jacob. Ist Jack nun zu einem wahrhaftigen "Mann des Glaubens" geworden? Eine unwahrscheinlich spannende Szene, die viele Fragen aufwirft und noch gespannter macht auf das, was kommen wird.

"All right Jack. You seem to have all the answers. Now what?" – "We go back to where we started."

Am Schluss gibt es dann nochmal einen richtig schönen Gänsehautmoment, als Jack, Hurley und Richard auf Sun, Frank, Miles, Ilana und Ben am Strand treffen. Eine Szene, die an die großen, emotionalen Momente aus vergangenen Staffeln erinnert und auch beim x-ten Mal entfaltet die Zeitlupe verbunden mit Michael Giacchinos Musik ihre volle Wirkung. Ganz wie es sich für "Lost" gehört, darf natürlich auch der große "Ich glaub's nicht!"-Moment am Ende fehlen, der diesmal in Form eines U-Boots kommt, in dem niemand anderer als Charles Widmore sitzt. Ist er also derjenige, von dem Jacob sprach?

Fakt ist: Von Anfang bis Ende ist #6.07 Dr. Linus eine exzellent ausgearbeitete Episode, die nicht nur für die Figur des Benjamin Linus eine enorme Entwicklung bedeutet, sondern auch alle Elemente vereint, die eine Ben-Folge haben muss. Starke Storylines auf der Insel, eine interessante Flash-Storyline, einen großartig aufgelegten Michael Emerson und natürlich – viel Sarkasmus. Hervorragend.

Maria Gruber - myFanbase

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