Bewertung

Review: #6.09 Seit Anbeginn der Zeit

"Ab aeterno ordita sum et ex antiquis antequam terra fieret." ("Ich bin eingesetzt von Ewigkeit, von Anfang, vor der Erde.") – Buch der Sprichwörter, Kapitel 8, Vers 23

#6.09 Seit Anbeginn der Zeit (Originaltitel: Ab Aeterno) ist die Episode, auf die viele von uns seit Jahren gewartet haben. Lange haben die "Lost"-Fans darauf gehofft, endlich die Hintergrundgeschichte des enigmatischen Richard Alpert zu erfahren, dem Mann, der nicht altert und der als einziger Jacobs wahres Gesicht zu kennen scheint. Dass sich die Erwartungen an diese Episode über so einen langen Zeitraum hinweg quasi unendlich in die Höhe geschraubt haben, ist daher klar.

Doch was wir hier letztlich geboten bekommen, dürfte keiner erwartet haben. Wer (wie ich) gehofft hatte, einen Querschnitt durch Richards wichtigste Stationen der letzten 150 Jahre zu sehen, wird anfangs womöglich etwas enttäuscht gewesen sein, dass "nur" Richards Ankunft auf der Insel thematisiert wurde und spätere Ereignisse wie die Entstehung der "Anderen", die Begegnung mit der Dharma-Initiative und Richards Rolle in all dem weggelassen wurden. Doch dann ist diese Episode in jeder Hinsicht so packend, dass eigentlich kaum Platz für Kritik bleibt.

"No, hijo mío. Me temo que el diablo te espera en el infierno. Que Dios tenga misericordia de tu alma."

Die erste (und hoffentlich nicht letzte) Flashback-Episode der Season führt uns zurück ins Jahr 1867, nach Teneriffa. Die Rahmenhandlung, die durch die Gruppe um Ilana, Jack, Sun, Hurley, Frank und Ben am Lagerfeuer geschaffen wird, ist dabei wunderbar atmosphärisch und leitet die Geschichte hervorragend ein. Und wie es bei allen großen Geschichten der Fall ist, dreht sich auch die von Richard Alpert um die Liebe.

Richards Story ist fast ein kleines Epos, die einfache, aber gewaltige Geschichte eines Mannes, der es sein Leben lang nicht geschafft hat, unabhängig zu werden, um nicht mehr auf die Gunst eines anderen angewiesen zu sein. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch Richards Leben: Zunächst ist er auf den Arzt angewiesen, um seine Frau Isabella zu retten, doch als dieser ihm die Hilfe verweigert, tötet Richard ihn versehentlich. Isabella stirbt und Richard kommt ins Gefängnis, wo sich eine zentrale Szene mit Pfarrer Suarez abspielt, der Richard die Absolution verweigert, wodurch dieser glaubt, dass seine Seele für die Hölle verdammt ist. Ein vernichtender Moment für den tiefgläubigen Richard, der nun keine Aussicht mehr auf den Himmel und damit ein Wiedersehen mit seiner Frau hat. An dieser Stelle muss unbedingt Nestor Carbonells Glanzleistung erwähnt werden, dessen Ausdruck purer Verzweiflung über den Tod seiner Frau und die Aussicht auf ewige Höllenqualen dem Zuschauer schlichtweg das Herz bricht.

Wie durch ein Wunder entkommt Richard der Todesstrafe und gehört von da an einem gewissen Magnus Hanso, dem Kapitän der Black Rock. Diese kentert nach einem spektakulären Sturm, reißt nebenbei auch noch die vierzehige Statue um (ihr wisst schon... es ist halt die Insel) und landet mitten im Dschungel. Bevor ihn der Kommandant jedoch töten kann, macht es tikka-tikka-tikka und Smokey taucht auf, um alle zu Kleinholz zu verarbeiten. Nur Richard, der in seiner Todesangst panisch das Vater Unser betet, bleibt verschont. Wieso tötet Smokey ihn nicht? Entscheidet er, als er den frommen Richard sieht, ihn als weitere Schachfigur zu benutzen, um Jacob zu beweisen, dass selbst der gläubigste Christ zur Sünde verdammt ist? Scheint so, denn Smokeys erster Schachzug ist es, als Isabella in Erscheinung zu treten und Richard zu manipulieren, damit er ihm vertraut.

"That man who sent you to kill me believes that everyone is corruptible because it's in their very nature to sin. I bring people here to prove him wrong."

Smokeys zweites Auftreten in Form von Titus Welliver beweist hingegen erneut, wie ideal letzterer für diese Rolle geeignet ist. Welliver strahlt eine unheimlich faszinierende Mischung aus Bosheit und Cleverness aus, gleichzeitig ist er aber unglaublich charismatisch. Er will Richard nutzen, um durch ihn Jacob zu töten und bedient sich dabei fast derselben Worte wie Dogen bei Sayid ("If he speaks, it will already be too late."). Es wird immer deutlicher, dass das Hin und Her zwischen Jacob und Smokey sich schon sehr, sehr lange hinzieht, und die Hintergründe dieses Streits werden immer interessanter: "The devil betrayed me. He took my body. My humanity," sagt Smokey zu Richard und wirft damit die Frage auf, was eigentlich zu dem Bruch zwischen ihm und Jacob geführt hat.

Doch vielleicht begründet sich die Erzfeindschaft zwischen Jacob und Smokey auch schlichtweg in der fundamentalen Gegensätzlichkeit ihrer Ansichten: Jacob glaubt fest an das Gute im Menschen, Smokey hingegen ist davon überzeugt, dass jeder Mensch zu Bösem fähig ist. In der essentiellen Szene zwischen Jacob und Richard erfahren wir auch endlich mehr über den eigentlichen Sinn und Zweck Jacobs und der Insel: Die Insel dient als Gefängnis für Smokey und Jacob ist quasi sein Wächter, der unablässig versucht, seine Nemesis von seiner Meinung zu überzeugen, was schon unzähligen Menschen das Leben gekostet haben muss. Mal eben so wird "Lost" durch diese Folge auf eine völlig neue Erzählebene gehoben und zu einer Geschichte epischen Ausmaßes erklärt – es scheint auf nichts geringeres als den ultimativen Kampf zwischen Gut und Böse hinauszulaufen. Jacobs Einstellung, die Menschen nicht zu beeinflussen und selbst entscheiden zu lassen ("To know the difference between right and wrong without me having to tell them. It's all meaningless if I have to force them to do anything. Why should I have to step in?") ist dabei zentral und erinnert stark an die christliche Gottesvorstellung, nach der Gott jeden Menschen frei entscheiden lässt.

Doch dass Jacob keine gottähnliche Essenz ist, zeigt sich, als er Richard den Vorschlag macht, für ihn als Vermittler zu arbeiten und er ihm im Gegenzug etwas geben will. Jacob kann Richards Frau Isabella nicht von den Toten auferwecken und auch Richard seine Sünden nicht vergeben – er ist also kein allmächtiger Gott oder dergleichen. Dafür aber kann er Richards Wunsch, ewig zu leben, um damit der Hölle zu entkommen, erfüllen.

Die Hölle also. Ja, #6.09 Seit Anbeginn der Zeit strotzt nur so vor religiös-christlichen Untertönen, doch man schafft es, auf dem schmalen Grat zwischen gezwungener Orthodoxie und verwirrender Bibel-Symbolik zu wandern. Neben den offensichtlichen Sachen wie Isabellas Kreuz oder Richards Bibel muss man schon ein wenig genauer hingucken, um die Symbolträchtigkeit in dieser Episode auch voll zu erkennen: So entkommt Richard drei Mal dem Tod, ähnlich wie Jesus drei Mal der Versuchung durch den Teufel standhielt. Eben diese Bibelstelle (Lukas, Kapitel 4) ist es, die Richard in seiner Gefängniszelle liest. Auch sehr metaphorisch ist Richards etwas unsanfte "Taufe" durch Jacob im Meer, die für seine Neugeburt auf der Insel steht. Bleibt nur noch offen, was der weiße Stein bedeutet, den Richard Smokey übergibt: Ein Insider-Gag zwischen Jacob und Smokey? Steht ein weißer Stein vielleicht für eine Seele, die Jacob auf seine Seite ziehen konnte?

"She said you have to stop the Man in Black. You have to stop him from leaving the island. 'Cause if you don't... todos nos vamos al infierno."

Richards Geschichte wird schließlich in der Gegenwart beendet, als er zu der Lichtung zurückkehrt, wo er einst Isabellas Kreuz vergrub. In seiner Hoffnungslosigkeit ist Richard gewillt, die Seiten zu wechseln und sich Smokelocke anzuschließen – somit ist er wieder auf direktem Weg, sich in die Abhängigkeit eines anderen zu begeben, nachdem er durch Jacobs Tod quasi "frei" ist und niemandem mehr gehört. Doch Hurley verhindert dies, indem er als Mediator zwischen Richard und der toten Isabella fungiert. So kitschig diese Szene auch sein mag, so herzerweichend ist sie. Der kurze Augenblick zwischen Richard und Isabella ist magisch, nicht zuletzt weil er ausschlaggebend dafür ist, dass Richard trotz allem auf Jacobs Seite bleibt.

So macht die erste und leider wohl einzige Richard-Folge von "Lost" insgesamt eigentlich nichts falsch. Natürlich wären weitere Einblicke in Richards Leben auf der Insel, gerade in Zusammenhang mit den Anderen und Dharma, mehr als wünschenswert gewesen, doch dann wäre der besondere Zauber, den diese Folge dadurch besitzt, dass sie sich nur auf einen bestimmten Punkt in Richards Leben konzentriert, wahrscheinlich verloren gegangen. Durch diese dramaturgische Entscheidung haben die Macher eine hervorragende Flashbackepisode kreiert, die trotz einiger Längen im Mittelteil nicht weniger als die volle Punktzahl bekommen kann.

Maria Gruber - myFanbase

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